: Ein Adler und zehntausende Tote
Seit 1930 erinnert in Möltenort bei Kiel ein Mahnmal an die deutschen U-Boot-Matrosen. Nicht alle Besucher der denkmalgeschützten Anlage trauern längst vergangener militärischer Größe nach – manche wollen auch einfach nur wissen, wo Freunde und Verwandte einst ihr nasses Grab gefunden haben
von FRANK KEIL
Als Rüdiger Liebetrau wieder zu Hause ist, war der Postbote zwischenzeitlich da. Im Kasten liegt ein Brief mit einem Anliegen, das ihm seit Jahren vertraut ist: Ein älterer Herr will wissen, wann und wo sein langjähriger Schulfreund damals im Krieg genau ums Leben kam. Er selbst kommt aus einem Dorf südlich von Bremen, war neulich hier in der Gegend, auf einer Bustour, gemeinsam mit anderen Senioren, mit Halt hier in Möltenort am U-Boot-Denkmal, auf halben Weg zwischen Kiel und Laboe, wo die Förde breiter und breiter wird und in die Ostsee übergeht.
Rüdiger Liebetrau wird ihm Auskunft geben und Todesdatum und die Position des untergegangenen U-Bootes im Golf von Mexiko nennen können: Als Vorsitzender der „Stiftung U-Boot-Ehrenmal“ verwaltet er die Listen der insgesamt mehr als 35.000 U-Bootfahrer, die im Laufe des Ersten und des Zweiten Weltkrieges nachweislich ums Leben kamen oder seitdem verschollen sind. „Auch wenn das alles nun so lange her ist“, sagt Liebetrau, „es kommen immer noch solche Briefe.“ Manchmal liegt ein Geldschein bei. Neulich waren es kanadische Dollars.
Doch bevor er diesen Brief gewissenhaft beantworten wird, steht er wieder einmal auf dem Vorplatz zum Denkmal, neben ihm ein 15 Meter hoher Sandsteinturm, auf dessen Sockel ein Adler mit geöffneten Schwingen prangt. Ja, der Adler, da würden viele an den Nazi-Adler denken, sagt Liebetrau,doch das sei so nicht richtig: Es sei ein Seeadler, der sich eben in die See stürze. Die Stiftung hat eigens ein Gutachten in Auftrag gegeben, das belegen soll, dass man sich hier nicht leichtfertig eines womöglich kriegsverherrlichenden Symbols bediene.
Das war 2001, als Adler samt Turm baufällig wurden und dringend restauriert werden mussten. Das Ganze wurde nicht billig: Über 800.000 D-Mark sind seinerzeit in die Sanierung des Adlerhorstes geflossen, der Adler selbst wurde in Berlin neu gegossen und vor Ort aus drei Teilen wieder zusammen geschweißt: „Der hätte nicht in einem Stück unter den Autobahnbrücken hindurch gepasst.“ So blieb der Turm samt Vogel, der bei aller bescheinigten Harmlosigkeit durch und durch martialisch wirkt, Blickfang für all die Besucher, die hier nach den Namen ihrer Angehörigen suchen.
„Uns ist es wichtig, dass das hier ein Mahnmal ist“, sagt Liebetrau, „eine Gedenkstätte, die zeigt, wie schrecklich Krieg ist und was er anrichtet.“ Seit 1990 steht die Anlage unter Denkmalschutz, wird mit unterhalten vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und getragen von privaten Spenden: „Und die werden allmählich weniger.“
Eigentlich ist das 1930 eingeweihte und 1938 neu gestaltete Denkmal am Ende noch vergleichsweise klein ausgefallen: Gab es doch einst ganz andere Pläne, um auf die im Ersten Weltkrieg umgekommenen U-Boot-Fahrer hinzuweisen – mehr aber noch, um die Flotte selbst zu verklären: Erst an der Unterelbe hinter Hamburg, dann bei Cuxhaven sollte ein riesiges U-Boot aus Beton errichtet werden, der Bug elbabwärts gerichtet. Dafür wurde in republikfeindlichen Marinekreisen fleißig gesammelt, doch dank Weltwirtschaftskrise und Inflation wurde aus dem Großprojekt nichts – und die verbliebenen Mittel reichten am Ende für einen Bau hier in Möltenort, errichtet auf dem Grund einer alten Schanze.
Rüdiger Liebetrau geht voran, betritt eine der so genannten Ehrenhallen, eine kühle, steinerne Kammer. Zeigt auf die Blumen, die Angehörige hingestellt haben; weist auf die Kränze, manche älteren Datums und in durchsichtiges Plastik gehüllt; etwa von der rechtslastigen „Traditionsgemeinschaft Eisernes Kreuz“. Es geht ins Freie, der Weg führt in einem Halbbogen entlang, links und rechts von über hundert Bronzetafeln flankiert, die Namen über Namen füllen: U-Boot-Nummer, Name des Kommandanten, Versenkungsort, die Namen und Dienstgrade der Mannschaften, streng alphabetisch geordnet. Plus Geburts- und Sterbedatum. Die Nummern der Boote werden immer höher.
Rüdiger Liebetrau tritt einen Schritt vor und zeigt wortlos auf die eine oder andere Jahreszahl hinter den Namen der hier Aufgeführten; rechnet dann vor, das viele gerade einmal Anfang, mal Mitte Zwanzig wurden: „Mit jedem neuen Boot wurden die Fahrer jünger. Die wurden bald nicht mehr ausgebildet, die wurden einfach rausgeschickt.“ Eingesetzt auf hastig zusammen geschraubten und genieteten Booten, nicht mehr überprüft, nicht mehr getestet.
Zuletzt waren das Kleinst-U-Boote, kaum mehr als schwimmende Särge, wie die Serie „Seehund“, von der eines mit seiner zweiköpfigen Besatzung ganz in der Nähe lange auf dem Grund der Förde lag. Der Axel-Springer-Verlagsmanager und Sammler maritimer Artefakte Peter Tamm hat es schließlich 2001 heben und bei Howaldts wieder in Stand setzen lassen. Nun steht es aufgebockt vor seinem Museum in der Hamburger Hafencity – als irgendwie neckisches Überbleibsel aus einer irgendwie dunklen Zeit.
Gab es eigentlich U-Boot-Besatzungen, die sich abgesetzt haben? Schließlich gelangten einzelne Boote während des Krieges bis in den Indischen Ozean oder dicht vor die amerikanische Küste. Der Gedanke ist Rüdiger Liebetrau auch schon gekommen und es sollen sich welche ergeben haben, das habe er mal gehört: „Es gab damals hier jemanden namens Oskar Kusch, ein U-Boot-Kommandant, den haben sie noch kurz vor Kriegsende drüben bei Holtenau erschossen, weil er wohl nicht wollte, das da ein Hitlerbild in der Offiziersmesse hängt.“ Aber Genaueres weiß er darüber nicht.
Rüdiger Liebetrau senkt plötzlich die Stimme, als könne jemand zu hören. „Es gab ja später unter den U-Bootfahrern auch Kritik an Großadmiral Dönitz, ihrem Befehlshaber“, flüstert er fast: „Dass er die U-Boote bis zuletzt raus in einen aussichtslosen Kampf geschickt hat, wo doch der Krieg nicht mehr zu gewinnen war.“ Und er, der Sohn eines U-Bootfahrers, der davon kam, richtet sich wieder auf, atmet tief durch und spricht nicht mehr von Dönitz, den der Deutsche Marinebund nach seinem Tod zu Weihnachten 1980 in einer Todesanzeige ohne Zögern als „große soldatische Führerpersönlichkeit“ ehrte.
Diese Anzeige findet sich abgedruckt in einem Buch über die Geschichte des Denkmals, dessen Mit-Herausgeber Liebetrau ist. Und auch wenn er sofort beteuert, man wolle in dem Band keinerlei Wertung der Ereignisse vornehmen, findet sich dort Ungewohntes: Denn es wird in der Chronik nicht verschwiegen, dass damals im Bremer U-Boot-Bunker „Valentin“ und im nahen Kieler U-Boot-Bunker „Kilian“ Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten und dabei vielfach gleich dort – oder in den umliegenden Lagern – zu Tode kamen.
Für einen heutigen Landgänger, einen aufgeklärten Zivilisten mögen solche Hintergrundinformationen eine Selbstverständlichkeit sein. Für manche der Angehörigen, erst recht für viele Mitglieder der noch verbliebenen U-Boot-Kameradschaften sind sie neu, ungewohnt und sie werden oft nur unwillig zur Kenntnis genommen.
Davon kann der Besucher in dem Buch erfahren, das am Ausgang der zweiten Halle ausliegt, bevor es wieder ins Helle geht. Mancher Eintrag lautet schlicht so: „In Gedenken an meinen Vater, der heute 90 Jahre alt geworden wäre.“ Plus dem Zusatz: „Nie wieder Krieg.“ Doch es finden sich noch immer Sätze wie: „Diese Männer sind für uns gestorben, das sollte man nie vergessen“ – „nie“ ist dabei unterstrichen. Letzterer Eintrag ist nicht unkommentiert geblieben: „Nicht für uns, für eine sinnlose Sache sind sie gestorben.“ Und der unbekannte Besucher hat noch hinzugesetzt: „Und sterben wollten sie bestimmt nicht.“
Annerose und Jörg-Rüdiger Sieck: Die U-Bootfahrer und das Ehrenmal in Möltenort; Wachholtz Verlag, Neumünster; 288 Seiten, 19,90 Euro