: Niemand motzt in Radio-Shows
Ein Besuch in London bei Torhüter Jens Lehmann, der in der gepflegten Atmosphäre beim englischen Spitzenklub Arsenal lockerer geworden ist und auch bei den Fans trotz gelegentlicher Patzer einen besseren Ruf genießt als Vorgänger Seaman
aus London MARCUS BARK
Rolle vorwärts. „Oooaaahhh yeeeaaahhh.“ Rolle vorwärts. „Oooaaahhh yeeeaaahhh.“ Das ist jetzt schon Kult. Nach einem halben Jahr. Immer nach der Halbzeitpause, wenn Jens Lehmann sich auf die zweiten 45 Minuten vorbereitet, macht er zwei Rollen vorwärts. Die Fans des FC Arsenal begleiten ihn. Sie haben ihn lieb. Einmal, als er an diesem Samstag von seinem gewöhnlichen Standort an der Strafraumgrenze ins Tor zurück schreitet, rufen sie sogar seinen Namen: „Leehmän, Leehmän.“ Das erinnert nur noch phonetisch an David Seaman, von dem wohl nie jemand verstehen wird, warum er beim FC Arsenal zur Torwartlegende geworden ist.
Jens Lehmann zieht einen Trolley hinter sich her, als er aus dem Kabinentunnel kommt. „War ’n gutes Spiel, oder?“, fragt er mit smartem Grinsen. Mit 4:1 hat Arsenal den FC Middlesbrough nach Hause geschickt. Thierry Henry, Freddie Ljungberg und Robert Pires haben traumhaft Fußball gespielt. Oder Patrick Vieira. „Der spielt immer so“, sagt Lehmann und grinst noch smarter. „Wir haben eine fantastische Mannschaft.“
Wer den ehemaligen Dortmunder in London erlebt, kann sich gar nicht vorstellen, dass er es mit jemandem zu tun hat, der von DFL-Chef Werner Hackmann mal als „arroganter Schnösel“ bezeichnet wurde. Mit dem Adjektiv hat sich Lehmann inzwischen sogar abgefunden. „Ich bin ein arroganter Fußballer“, sagt er. Abseits des Rasens sei er aber weder arrogant noch ein Schnösel. „Glauben Sie, dass ich mich zu Hause gegenüber meinen Kindern auch so aggressiv verhalte wie im Spiel?“ Hoffentlich nicht, denn vom Verband droht Lehmann eine Sperre, weil er seinem Gegenspieler den Ball in den Rücken geworfen hat.
Lehmanns Kinder, Lasse und Mats, haben sich in der englischen Metropole genauso schnell eingelebt wie der Papa. „Der Große hat sogar die Aufnahmeprüfung für die nächsthöhere Schule geschafft.“ Jens Lehmann hat keine Scheu, über seine Familie zu sprechen. Er hat sich sogar mit ihr fotografieren lassen. In Primrose Hill, nahe seinem Haus in Hampstead. Wer auf den kleinen Hügel steigt, wird bei gutem Wetter mit einem Blick über die ganze Stadt verwöhnt. An diesem Tag aber hängen die Wolken tief, als sich zwei schwarze, schwere Tore öffnen, um das Taxi auf das Trainingsgelände des FC Arsenal zu lassen. Fahrer Rasheed ist Fußballfan. Über den deutschen Torhüter, der es „einfach gerecht“ fände, nach sechs Jahren auf der Bank bei der Europameisterschaft in Portugal im Kasten der Nationalmannschaft zu stehen, hat er wenig zu berichten, obwohl Rasheed Anhänger der „Gunners“ ist. Eigentlich sei das aber ein gutes Zeichen. „In den Radio-Shows, in denen die Fans immer motzen, fällt der Name Lehmann nicht.“ Dabei liegt der letzte schwere Patzer nicht lange zurück. Gegen Leeds United ließ der Torhüter eine Rückgabe weit vom Fuß springen, sein Rettungsschlag prallte vom Stürmer ins Tor. Die Szene läuft vor dem Middlesbrough-Spiel dreimal in Wiederholung auf dem großen Bildschirm.
Lehmann sieht die Szene nicht, denn er bereitet sich auf die Partie vor. Es sind die 90 Minuten, die allein zählen. „Dir wird hier alles abgenommen. Du sollst keinen Stress haben und dich nur auf den Fußball konzentrieren“, sagt Lehmann. Deshalb auch das fantastische Trainingsgelände weit außerhalb der Stadt, nahe St. Albans. Etliche Fußballplätze – jeder akribisch gepflegt – und ein großer Gebäudetrakt. Der Speisesaal ist etwa so groß wie vier Strafräume.
Während Lehmann sich an den Faxen des bulligen Verteidigers Sol Campbell erfreut, bedient sich Thierry Henry gerade am Büfett. „Es ist keine Pflicht, nach dem Training hier zu essen“, sagt Lehmann. Trotzdem sind alle da. Auch „der Boss“, wie er im Klub von allen genannt wird. Trainer Arsène Wenger isst gerade. „Was er sagt, zählt. Er spricht vor den Spielen fünf, maximal acht Minuten. Sehr punktuell. Sehr präzise, was wir machen sollen. Und jeder weiß Bescheid.“ Die Frage, ob das bei Matthias Sammer in Dortmund anders gewesen sei, übergeht Lehmann galant. „Das Kapitel ist abgeschlossen.“
Jetzt ist Arsenal, jetzt ist England. „Hier ist alles lockerer.“ Kürzlich hat sich die Mannschaft morgens wie jede anständige Amateurtruppe zum Treffpunkt verabredet und ist bei lauter Musik mit dem Bus nach Southampton gefahren. Einige haben Karten gespielt, andere telefoniert. „In Deutschland darfst du dies nicht, dann darfst du das nicht“, erinnert sich Lehmann an Handy-Verbote und die Nächte im Hotel vor den Spielen. Bei Arsenal darf jeder weitestgehend alles, solange er gut Fußball spielt. Arsenal hat in Southampton 1:0 gewonnen „Du hast hier keine Ausreden. Worauf soll man es schieben, wenn es nicht läuft?“
Eigentlich muss Lehmann jetzt nach Hause. Die Kinder abholen. Zehn Minuten zusätzliche Zeit hat er bei seiner Frau Conny schon herausgeschlagen. Auf dem Weg zu seinem Porsche ohne Nummernschild („Das ist abgefallen“) erinnert ihn Pressechefin Amanda daran, dass noch ein Fernsehteam wartet. „Ach ja, das ist ja auch noch.“ Lehmann nimmt es mit einem Lächeln. Nicht nur England ist lockerer, sondern auch der sonst in der Öffentlichkeit so verbissene Torhüter. Für ihn gibt es nichts zu meckern. Nur zu Weihnachten, als Arsenal nonstop um wichtige Meisterschaftspunkte im Rennen um den Titel in der Premier League spielte, hat er ein bisschen Heimweh gehabt: „Meine Familie war zu Hause, und ich habe gehört, dass es schneit.“