Berliner Platten
: Exilantenmucke: Stefan Rogall hat einen ganzen musikalischen Zirkus um sich gruppiert, und Mini Moustache geben die Franzosendisco

Was wäre Berlins Musikantenschar ohne die Blutauffrischung durch Exilanten. Die kommen seit einiger Zeit nicht mehr vorzugsweise aus dem Schwabenland, sondern aus der ganzen Welt. Stefan Rogall, der als Gründungsmitglied des Sonar-Kollektivs, als weitgereister DJ und nicht zuletzt als Musiker und Produzent für Berliner Bands wie Atomhockey, Nylon oder Micatone recht erfolgreich Jazz mit Chanson, Pop und Electronica zusammen dachte, hat nun eine erkleckliche Anzahl solcher Immigranten versammelt.

So präsentiert sich „Rogall & The Electric Circus Sideshow“ als musikalischer Jahrmarkt, der bevölkert ist mit verschiedensten Stimmen: Der alte Nick-Cave-Kumpel Hugo Race darf dunkel dahersingen und Farda P., der mal bei Rockers-HiFi war, rumrappen. Im Gegensatz zu denen lebt Hardcore-Muskelprotz Henry Rollins zwar nicht in Berlin, trägt aber wie gewohnt ein Gedicht vor, während die eher vom Tango kommende Londonerin Bev Lee Harding ganz hinreißend singt. Des weiteren sind Instrumente aus dem Giftschrank der Populärkultur, so ein schmachtendes Saxofon, ebenso präsent wie ein geradezu postmoderne Egal-Haltung im Verwursten aller möglicher Genres: Das beginnt mit der Eröffnungsnummer „Nuts’n’Bolts“ im Cabaret-Stil und endet zum Ausklang mit dem abgehangenen Pseudo-Jazz von „No Deposit“. Dazwischen finden sich ein schmieriger Schieber-Blues, eine irgendwie indisch verschlungene Schlangenbeschwörer-Nummer, eher abgehangene Chill-Out-Nichtigkeiten oder dreiste Aneignungen osteuropäischer Folklore, Anklänge an die Punkvergangenheit manches Protagonisten und auch an die Rockabilly-Tolle von Rogall. Das Erstaunliche ist allerdings, dass diese Vielfalt nicht auseinander fällt, sondern sich wie selbstverständlich fügt zu einem munteren, mitunter fast filmischen Geschehen, dem selbst das ausgelutschte Circus-Konzept nichts anhaben kann.

Auch Mini Moustache, ein in Berlin heimisch gewordenes Quartett aus Paris, hat sich einen metaphorisch überbeanspruchten Ort gewählt als Thema. „La vie en Disco“ heißt ihr Debütalbum, und tatsächlich werden entscheidende Details eines solchen Lebens in der Disco verhandelt: „Au Pissoir“ zum Beispiel. Oder wie das Frühstück am kommenden Morgen aussieht: „Deux baguettes & un croissant“. Ansonsten geht es, wenig überraschend, vor allem um „Danse danse danse“. Dabei adaptiert die Band den klassischen Disco-Sound, nur dass die flotten Funk-Riffs nicht von Nile Rodgers gespielt und die Kastraten-Chöre nicht von den Bee Gees gesungen werden.

Stattdessen klingen Mini Moustache bisweilen, als habe sich eine Horde Straßenmusiker an die Aufgabe gemacht, mit einer Diskokugel den Boxhagener Platz zu beleuchten. Dass Mini Moustache nicht davor zurückschrecken, noch das allerdämlichste Klischee vom dauerflirtenden, rotweingetränkten Franzosen zu bedienen, ergibt einen zwar arg konstruierten, aber grandios dämlichen und ziemlich großartigen Widerspruch. Oder, anders gesagt: Contradiction klingt gut. THOMAS WINKLER

Rogall: „Rogall & The Electric Circus Sideshow“ (Perfect Toy/Our Distribution)

Mini Moustache: „La vie en Disco“ (Monohausen/Groove Attack)