: Zwischen Marx und Gandhi
Rund einhunderttausend Protestbewegungen, Lobbygruppen und Netzwerke sind in Indien aktiv. Kaum eine kann sich dem Spektakel des Weltsozialforums entziehen
PUNE taz ■ Indien gerät in Bewegung! Aus allen Ecken und Winkeln des Riesenlandes kommen Vertreter von Basisorganisationen zum vierten Weltsozialforum nach Bombay. Seit vielen Wochen finden überall regionale und themenbezogene Foren statt, damit sich Basisgruppen über Positionen und Strategien austauschen können. Nur wenige indische Bürgerrechtler, Umweltschützer oder Dorfentwickler können sich dem Sog dieses Spektakels entziehen. Das Weltsozialforum bietet Gelegenheit, eine internationale Medienöffentlichkeit auf die Probleme in Indien aufmerksam zu machen und Sponsoren für die eigene Arbeit ausfindig zu machen.
In Indien gegen die Globalisierung zu sein, hat nichts Außergewöhnliches. Kein Politiker, weder Wirtschaftsexperten noch Industrielle, befürworten öffentlich eine ungebremste Globalisierung. Seitdem muslimischer und hinduistischer Fundamentalismus die Gesellschaft immer tiefer spaltet, bleibt der aus hunderten von Ethnien, tausenden von Sprachgemeinschaften und zigtausenden von Kasten zusammen gestückelten Nation nur noch ein gemeinsamer Nenner – die Tradition des antikolonialen Freiheitskampfs. Der noch nicht vollständig abgeklungenen Wut auf den „Westen“ entspringt eine öffentliche Wachsamkeit gegenüber jedem Versuch, die mühsam gewonnene Freiheit zu untergraben.
Multis etwa haben es nicht leicht in Indien. Indische Basisgruppen mobilisieren Bauern gegen subventionierte Agrarimporte aus Europa und den USA. Sie kämpfen gegen die Privatisierung der Strom- und Trinkwasserversorgung und den Verkauf großer Staatsunternehmen.
Im demokratischen Klima Indiens konnte sich die vielleicht größte Zivilgesellschaft der Welt entwickeln. Seriöse Schätzungen sprechen von mehr als einhunderttausend Protestbewegungen, Dorfentwicklungsvereinen, Lobbygruppen und Netzwerken, die überall im Lande aktiv sind. Ihre ideologischen Wurzeln liegen im antikolonialen Freiheitskampf und dessen Idol Mahatma Gandhi sowie der marxistischen Arbeiterbewegung. Antikolonialismus und Antiimperialismus finden beim Thema Globalisierung leicht zusammen. Aber über den Weg zum gemeinsamen Ziel gibt es offenbar hinter den Kulissen Auseinandersetzungen, die zur Einrichtung der Parallelveranstaltung „Mumbai Resistance 2004“ führten. Schon auf früheren Weltsozialforen hatte der Ausschluss bewaffneter Gruppen zu Debatten geführt. In Bombay tritt die Spaltung jetzt auch räumlich zu Tage.
Das WSF kommt nach Indien zu einem Zeitpunkt, an dem sich die indische Elite im Siegestaumel befindet und unverblümt von einer Großmacht Indien träumt. Das Wirtschaftswachstum hat sich bei rund 6 Prozent stabilisiert. Die junge Software-Industrie zieht Millionenaufträge aus den USA und Europa an. Innerhalb des vergangenen Halbjahrs ist der Aktienindex Sensex um mehr als die Hälfte seines Werts nach oben geklettert. Seit einigen Wochen bietet DaimlerChrysler sein Luxusmodell Maybach in Indien an – zum Preis eines Einfamilienhauses.
Die Erfolgsmeldungen an Börse und Bankschaltern scheinen den Liberalisierern und Globalisierern Recht zu geben. Viele ihrer Kritiker fühlen sich in die Defensive gedrängt. Man befürchtet, Indien könne sich im Rausch des Erfolgs vollends in die Arme des Westens werfen und die im Freiheitskampf gewachsenen Traditionen begraben. Das WSF wird der indischen Antiglobalisierungsbewegung neue Impulse geben. RAINER HÖRIG