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Archiv-Artikel

Die Elite muss Spektakel werden

Von „Deutschlands klügsten Kindern“ bis zu den „Superstars“: Sobald sich irgendwo eine Testbühne zeigt, wird sie von den Chancensuchern unserer Ranking-Kultur gestürmt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Elitedebatte zu verstehen: als Disziplinierungsversuch des massenkulturellen Wildwuchses

„Elite“ wird längst ungerichtet, an allen möglichen Orten in der Gesellschaft produziert

von TOM HOLERT

„Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten. Unsere Gesellschaft braucht Eliten. Allerdings kommt es darauf an, was man unter Elite versteht.“ Gerhard Schröders Regierungserklärung vom 10. November 1998 war, wie sich jetzt zeigt, von zukunftsweisendem Charakter. Auch wenn es noch nicht so richtig klappt, dass alle das gleiche darunter verstehen, will niemand der Kanzlerforderung nach „Eliten“ widersprechen. Nicht nur beherrscht wie selbstverständlich eine Rhetorik des Wir-Brauchens und Ihr-Müsst die Äußerungen der Politiker und der Kommentatoren. Auch die Einschätzung, Elite und ihre Förderung seien bitter notwendig, wird allgemein geteilt.

Mit der „Elite“-Forderung ist die Forderung nach bestimmten Subjekten verbunden. Gerhard Schröder dürfte auch sein (Selbst-)Bild als glamouröser Brioni-Kanzler im Sinn gehabt haben, als er in der Regierungserklärung von 1998 ebenfalls festlegte, wie die gegenwärtigen und künftigen Leistungseliten beschaffen sein sollen: „Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesellschaft. Darunter soll man sich ja nicht eine Gesellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vorstellen. Wissensgesellschaft, das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft.“ Keine Macht also den uncoolen „Superhirnen“ und „Weißkitteln“: Der klassensoziologische Populismus von oben malt sich eine andere, eine zeitgemäßere, gesellschaftsfähige Elite aus – eine Elite, die nicht abschreckt, sondern Lust auf „Qualifikation“ macht.

Heute, mehr als fünf Jahre und eine Wirtschaftskrise später, ist die Sprache spürbar schärfer und entschlossener geworden. Psychologisch kann man dies als Folge einer Kette von Kränkungen deuten. Deutschland hat als Nation, wie pausenlos beteuert wird, seit der Wiedervereinigung im globalen Wettbewerb in vielen Spielen „verloren“. Besonders bitter: die nationale Schmach der Pisa-Studie, die Misere der Universitäten im internationalen Vergleich, der viel beschworene Exodus junger Forscher usw.

Schuld an den Kratzern im Selbstbild der erfolgsgewohnten Deutschen ist alles Mögliche: die Wiedervereinigung und die Globalisierung, aber auch die demografische Entwicklung, der Bürokratismus, der Korporatismus, die investitionshemmende Steuergesetzgebung, die Lohnnebenkosten und die Schul- und Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Diese Niederlagen des Standorts werden durch ein System von Statistiken und Ranglisten versinnlicht. Man belegt traurige hintere Plätze, die Kurvendiagramme verzeichnen dramatische Verläufe. Ranking und Kränkung bedingen sich gegenseitig.

Das Prinzip Ranking ist aber auch eine vorzügliche Technik des gegenwärtigen Regierens von Subjekten und Gesellschaften. Es stellt die Individuen und Institutionen unter eine sowohl außen- wie innengeleitete Dauer-Evaluation, wobei die Furcht vor dem Absturz und der Ehrgeiz aufzusteigen eine feste Einheit bilden. „Qualifikation“ zeigt sich in der Ranking-Kultur durch die „Performance“ in einer oder mehrerer der allgegenwärtigen Listen, Charts und Polls. Die schlechte Platzierung ist synonym mit Handlungsbedarf, die gute Platzierung verschafft kurzfristig politische und ökonomische Spielräume, ist aber immer von den Korrekturen durch das je nächste Ranking bedroht.

Die gegenwärtige Elitendiskussion lässt sich nur in Hinsicht auf die faktische und imaginäre Macht eines weitreichenden Netzwerks der Zahlen und Statistiken adäquat bewerten, mit denen bildungspolitische Entscheidungen legitimiert werden. Und sie ist nicht zu trennen von den massenkulturellen Inszenierungen dieser politischen Zahlenspiele. Sich dem Wettbewerb zu stellen und die eigene „Exzellenz“ vorzuführen bedeutet ja zunehmend, der Veröffentlichung der eigenen Position zuzustimmen. Die Selektionsorgien der „Superstar“-Rekrutierungen und der Boom von Quiz- und Wissensshows, die nach den „besten Deutschen“ und „Deutschlands klügsten Kindern“ suchen und im Zweifelsfall beschließen, „Der Schwächste fliegt!“, üben zur Prime Time in die Prozeduren der Kalibrierung von „Leistung“ ein. Auf allen Ebenen gilt nunmehr: Zeig her deine Qualifikation!

Das heißt, „Elite“ wird längst ungerichtet, an allen möglichen Orten in der Gesellschaft produziert. Der Imperativ der „Qualifikation“ zwingt die Einzelnen zu Maßnahmen, ihre Leistungsbilanz marktgerecht zu verbessern. Bei irgendeiner Eignungsprüfung, Umfrage, Rangliste, Hitparade muss man schon in den höheren Positionen vertreten sein, will man überhaupt wahrgenommen werden und nicht alle Hoffnung fahren lassen.

Der Erfolg dieser dezentralen Leistungsschauen beruht auf der wachsenden Bereitschaft der Einzelnen, sich öffentlich prüfen und einordnen zu lassen. Während in der Bildungsdebatte die Maxime der „Chancengleichheit“ wie eine zerzauste Fahne in den Stürmen der Ökonomisierung des Wissens flattert, suchen die Leute in den Massenmedien ihre Chance, weil vor der Kamera angeblich alle gleich sind. Solange sich eine Testbühne findet, auf der Fähigkeiten beim Lösen von Multiple-choice-Fragen oder als Christina-Aguilera-Klon demonstriert werden können, wird sie von den Chancensuchern der Ranking-Kultur gestürmt.

Dieses außengerichtete, an Exhibitionismus grenzende Leistungsverständnis ist Bestandteil einer sozialen Rationalität der Gegenwart, in der Person und Arbeitskraft eine unauflösliche Einheit bilden.

Von dieser Dauer-Performativität sind immer weitere Kreise der Bevölkerung betroffen. Jetzt soll sich auch die Elite zeigen. Auch sie wird tendenziell, dafür sorgt die laufende Debatte, was sie bisher nicht sein durfte und sein wollte: spektakulär. In Großbritannien, den USA oder in den fernöstlichen Aufsteigergesellschaften sei die Orientierung ohnehin längst „schamlos elitistisch“, formulierte neulich ein deutscher Biotech-Jungunternehmer bei „Sabine Christiansen“ – und freute sich sichtlich.

Aber der Elitismus der US-Gesellschaft zeigt sich nicht nur in der offenen Verquickung von Selbstdarstellertum, Kapital, persönlichen Beziehungen und Forschung, sondern auch in dem Instrument, das seit Jahrzehnten die Zugänge an die Colleges regelt: Der „Scholastic Aptitude Test“ (SAT) ist der wichtigste standardisierte Eignungstest, den jährlich Millionen von Studienplatzbewerbern durchlaufen. Seinen Ursprung hat der SAT in der Testpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts. Die Rhetorik, mit der die meritokratischen Segnungen der SAT-Selektion verbreitet werden, berief sich von Anfang an auf die Auswahl einer nationalen Elite nach angeblich objektiven Kriterien, unabhängig von Herkunft und ökonomischen Verhältnissen. Freilich hat das SAT-System dieses Ziel verfehlt und statt dessen eine weithin homogene Elitenstruktur geschaffen. Deren Mitglieder, die überwiegend der weißen Mittelschicht entstammen, wähnen sich aufgrund der Testergebnisse, die angeblich ihre geistige Überlegenheit zertifizieren, ganz selbstverständlich in der Lage, nach Abschluss des Studiums an einer Spitzenuniversität jeden Beruf und jedes Amt auszuüben.

Die Folge: eine oft grotesk anmutende Fixierung auf das Testprinzip als begrenzt manipulierbarer Schicksalsmaschine. In den Familien der vom Abstieg bedrohten Mittelschichten wird fieberhaft am hoch- und testbegabten Nachwuchs gebastelt; „Selfgrowth“-Agenturen bahnen gegen Entgelt den Weg zum „Genius Code“; die Hirnforschung unterbreitet „neurodidaktische“ Vorschläge zum möglichst direkten Zugriff auf die Hardware des Lernens; die Vorbereitung auf den SAT-Test ist teurer und wichtiger als das Highschool-Abschlusszeugnis.

Manche dieser Entwicklungen lassen sich auch hierzulande beobachten. Ein Blick in die Ratgeberecke der Großbuchhandlung oder in eine beliebige Männer- oder Frauenzeitschrift, ganz zu schweigen von einem Besuch im Assessment-Center der Personalabteilung eines Konzerns genügt, um einen verstörenden Eindruck von der proliferierenden Ranking- und Testkultur zu gewinnen. Dabei gilt: Jeder ist für seine „Qualifikation“, seine Gehirnleistung, seine Teamintelligenz usw. selbst verantwortlich. Und die Bühnen der Leistungsschau stehen überall.

Der gegenwärtige Ruf nach der Elite versucht nicht zuletzt, den wilden, massenkulturellen Akademien der Selbstdarstellung und Selbstoptimierung ein Modell gepflegter Förderung entgegenzusetzen. Mit welchen „legitimen“ Instrumenten will man künftig die Zusammensetzung der Elite steuern? Keine unwichtige Frage, etwa angesichts der immer lauter werdenden Forderung, dass nicht länger die ZVS, sondern die Universitäten die Auswahl unter den Bewerbern treffen sollen. Eignungstests konstruieren stets Wunschsubjekte für Bildungslaufbahnen. Folglich ist zu empfehlen, sich über die diesbezüglichen Wünsche der Hochschulen gut zu informieren.

Die langfristigen sozialen und kulturellen Konsequenzen der Verstreuung von Qualifikationsgelegenheiten und Prüfungssituationen sind noch nicht abzusehen. Aber die aktuelle Elitendiskussion reagiert trotzdem auch auf diese Entwicklung einer neuartigen Ranking-Kultur, die aufs Engste mit dem Ende des wohlfahrtsstaatlichen Begriffs von Bildung und Qualifikation zusammenhängt und dafür dem Markt und seinen Kalkülen um so mehr entspricht. Bei der Forderung nach Eliten handelt es deshalb nicht nur um eine Initiative zur Lösung der Standort-Krise von Forschung und Lehre. Es geht hier auch darum, den Begriff Elite zu disziplinieren, das heißt auf eine bestimmte, dem massenkulturellen Wildwuchs der Qualifikationsgelegenheiten trotzenden Weise zu „verstehen“, um das Verstandene sodann „herauszubilden“. Denn dagegen hat die Regierung nichts.