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Archiv-Artikel

Die neue deutsche Anarchie

VON RALPH BOLLMANN

Die Reaktion ist schon erstaunlich. Schwarzarbeit im Haushalt, seit eh und je verboten, will der Finanzminister jetzt auch tatsächlich verfolgen. Aber worüber regen sich die Kommentatoren auf – wie man vermuten darf, nicht ohne eigenes Interesse? Dass der Staat seinen eigenen Gesetzen bislang kein Gehör verschaffte, erzürnt sie keineswegs. Skandalös finden sie dagegen, dass er es tun will. Wo alle Beteiligten zufrieden sind, so das Argument, habe sich die Obrigkeit nicht einzumischen.

Galt nicht gerade hierzulande einst die Regel, Gesetze müssten schon deshalb eingehalten werden, weil es Gesetze sind – ganz gleich, ob sie der Einzelne für gerecht oder für ungerecht hält, ob sie ihm nützen oder schaden? Und galten die Deutschen nicht als das Volk, das diesen Grundsatz strikter befolgte als jedes andere – bisweilen mit fatalen Konsequenzen?

Diese Zeiten sind vorbei. Mehr als fünfzig Jahre nach ihrer Gründung hat sich die Bundesrepublik zum freizügigsten Land der Welt entwickelt. Zwar mögen Niederländer oder Skandinavier nach dem Wortlaut ihrer Gesetze liberaler scheinen, weil sie ihn stets mit protestantischem Eifer den Verhältnissen des Alltags anpassen. Das haben die Bundesbürger indes gar nicht nötig: Jahrzehntelang vom katholischen Rheinland dominiert, können sie mit den Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis bestens leben.

Den Befund aus dem Alltag bestätigen die Studien der Frankfurter Kriminologin Ingrid Deusinger. Bei einer Befragung von 448 Erwachsenen aus dem Rhein-Main-Gebiet bekundeten nur 53 Prozent eine positive Einstellung zu den Gesetzen. Kein Einziger bekannte sich dazu, den Paragrafen bedingungslos zu folgen. Ein hohes Maß an Zustimmung fand etwa der Satz: „Man sollte nur die Gesetze befolgen die man für vernünftig hält.“ Ganz wenige Befragte mochten „die Gesetze befolgen, egal, wie sehr sie die eigenen Wünsche beschneiden“. (siehe Kasten)

Allgemein anerkannt sind die Gesetze nur noch im engsten Kernbereich des Strafrechts, bei Tötungsdelikten, Körperverletzung oder Entführung – wenngleich auch hier die Grauzone wächst: So bleibt nach Schätzungen von Rechtsmedizinern die Tötung alter und kranker Menschen in Deutschland weit öfter unentdeckt als andernorts.

Bei Eigentumsdelikten ist der Übergang noch fließender. Zwar gelten Einbruch, Raub oder Erpressung allgemein als unschicklich. Doch bei Diebstahl oder Betrug gilt das schon nicht mehr, wenn das Opfer nur anonym bleibt, weil es sich um den Staat handelt oder um ein unbekanntes Individuum. Wer seinen Regenschirm in einer Telefonzelle vergisst, wird ihn hierzulande schon nach fünf Minuten kaum noch wiederfinden – auch wenn es gar nicht regnet. Andernorts ist das Raffen als Selbstzweck weit weniger verbreitet.

Steuer- und Sozialgesetze sind also bei weitem nicht das einzige Stück Papier, das in Deutschland höchst geduldig ist – auch wenn die massenhafte Verweigerung auf diesem Gebiet die längste Tradition hat. „Steuergesetze waren nie wirklich akzeptiert“, sagt der Freiburger Staatsrechtler Thomas Würtenberger, einer der wenigen deutschen Juristen, die sich mit der Frage überhaupt beschäftigen, ob die von ihnen erdachten Regeln in der Praxis auch Beachtung finden.

Wurde bei den Steuern einst vorzugsweise bei den Einnahmen geschummelt, hat sich das Geschehen dank dichterer Kontrollen längst auf die Ausgabenseite verlagert – sehr zur Freude jener Branchen, die ihren Kunden bei der Minderung der Steuerlast behilflich sind. So ist es in Hotels längst üblich, nur noch Quittungen für „Zimmer“ auszustellen – dann lässt sich der Kurzurlaub im Doppelzimmer problemlos als einsame Dienstreise abrechnen. Und manch harmonischer Abend im Wirtshaus endet mit einem handfesten Streit, wer den den Beleg für das angebliche Geschäftsessen nach Hause tragen darf.

Neben dem Tricksen beim Finanzamt ist die Verweigerung der Sozialabgaben zur Geschäftsgrundlage ganzer Branchen geworden. So verbreiteten sich in den letzten Wochen zahllose Gazetten über das erlahmende Interesse an Putzstellen, sobald der potenzielle Arbeitgeber das Wort „Anmeldung“ auch nur ausspricht. Aber auch Handwerker verzichten bei privaten Auftraggebern kaum noch auf die Frage, ober den Kunde denn eine Rechnung brauche.

Hatten sich einst vor allem die Besserverdienenden aufs Schummeln verlegt, so ist das Phänomen heute flächendeckend verbreitet. Der Durchschnittsdeutsche erwartet Gesetzestreue nicht mehr von sich selbst, sondern allenfalls von Politikern (sie haben die Gesetze ja gemacht) und Wirtschaftskapitänen (Eigentum verpflichtet). Von den Medien werden sie nicht selten in ihrer Haltung bestärkt: Ein Gesetz, dass in allen Talkshows als untauglich gebrandmarkt wirkt, wird im Alltag gewiss nicht mehr befolgt.

Selbst bei einer durchgreifenden Vereinfachung von Steuer- und Sozialrecht wird es aber kaum gelingen, die Deutschen auf den alten Pfad bedingungsloser Gesetzestreue zurückzuführen. Nach Jahrzehnten der Demokratisierung kann gültiges Recht kaum noch einseitig verordnet, sondern allenfalls zwischen Staat und Gesellschaft ausgehandelt werden. „Dass der Pragmatismus im Umgang mit dem Gesetz zugenommen hat“, findet der Freiburger Rechtsprofessor Würtenberger, sei eine „ganz normale Entwicklung“ – vorausgesetzt, dieser Pragmatismus mündet nicht in offenes Unrecht.

Denn dass die grassierende Gesetzlosigkeit auch Schattenseiten hat, lässt sich seit Jahrzehnten in Italien beobachten. Jenseits der Alpen hat sich der notorisch schwache Staat niemals gegen die Zentrifugalkraft der Einzelinteressen durchsetzen können. Selbst den spektakulären Versuchen der Justiz, dem Recht in der Mailänder Spendenaffäre oder mit den sizilianischen Mafiaprozessen wieder Geltung zu verschaffen, blieb der anhaltende Erfolg versagt. Ganz ohne Folgen blieb der juristische Eifer freilich nicht: In Italien sei das Unrechtsbewusstsein etwa bei Korruptionsdelikten heute „stärker ausgeprägt als in Deutschland“, glaubt der Staatsrechtler Ulrich Battis von der Berliner Humboldt-Universität.

Bisweilen erreichten die Staatsanwälte freilich das genaue Gegenteil. Am Ende empfand das Publikum sogar Mitleid mit dem korrupten Sozialisten Bettino Craxi, der seinen Lebensabend schwerkrank im tunesischen Exil verbrachte. Wo sich jeder zu jeder Zeit über Gesetze hinwegsetzt, kann die Justiz nur noch in Einzelfällen zugreifen, durch übergroße Härte ein Exempel statuieren – und damit letztlich Willkür praktizieren.

Auf wenig Sympathie stießen daher die spektakulären Aktionen von italienischen Linkspolitikern, die in den Neunzigern illegale Bauten in Küstennähe von Bulldozern niederreißen ließen. Warum nur hier, fragte sich das Publikum, wenn andere Bauherren den Meerblick straflos genießen dürfen? Da ist Silvio Berlusconi den meisten Italienern schon sympathischer, schließlich handhabt er die Gesetze ähnlich flexibel wie sie selbst.

Deutsche und Italiener eint eine hoch entwickelte Rechtskultur, deren ausgeprägter Formalismus im Alltag oft kaum zu handhaben ist. Südlich der Alpen haben Gerichte schon Verwaltungsakte annulliert, weil sie nicht mit der vorgeschriebenen Kordel in den Farben der Trikolore ausgefertigt waren. Auch in Deutschland ist ein Formfehler, der jahrelanges Prozessieren erlaubt, schnell bei der Hand.

Während sich die Deutschen bei ihrem Kampf gegen das Gesetz freilich in einem zähen Kleinkrieg aufreiben, pingelig Belege fürs Finanzamt sammeln und in grauen Formularen falsche Kreuzchen machen, schlagen die Südländer dem Gesetz weit lustvoller ihr Schnippchen. Um der neu eingeführten Anschnallpflicht zu entgehen, erwarben Italiens Automobilisten eigens hergestellte T-Shirts, auf denen der obligate Gurt täuschend echt aufgedruckt war.

Die Gurtpflicht zeigt aber auch, dass sich anfangs kaum akzeptierte Gesetze langfristig doch durchsetzen können. Wie beim Alkoholverbot war hier staatliche Repression offenbar nötig. Aber Erfolg hatte sie nur, weil die meisten Bundesbürger den Sinn dieser Regeln im Lauf der Zeit einsahen.

Dass ein Übermaß an Zwang oft gar nicht nötig ist, zeigen auch jüngste Entwicklungen der Wirtschaftswelt. Hatten sich die Großbanken bislang an Gesetzen gern vorbeigemogelt und bei Steuerhinterziehung oder Geldwäsche beide Augen zugedrückt, wachen heute ganze Abteilungen über die „Compliance“ – zu deutsch: über das Befolgen der Gesetze. Offenbar kann allein der „Wettbewerbsfaktor Gesetzestreue“, wie jüngst ein Fachblatt mahnte, „den nachhaltigen Unternehmenserfolg sichern“.