kündigungsschutz: Flexibel aus Verzweiflung
Die SPD neigt gelegentlich dazu, Willy Brandt und Gerhard Schröder miteinander zu vergleichen. Beide waren die einzigen SPD-Politiker, die gleichzeitig als Parteivorsitzender und Bundeskanzler amtierten; beide gerieten in der zweiten Legislatur in eine existenzielle politische Krise. Nun zeichnet sich eine neue Parallele ab: Willy Brandt wurde von den Gewerkschaften aus dem Amt gefegt, jedenfalls trug ein ÖTV-Tarifabschluss von elf Prozent ganz wesentlich dazu bei, dass Brandt 1974 als Kanzler zurücktrat. Ähnliches könnte auch seinem Politenkel Schröder passieren: Die Gewerkschaften drohen mit Protesten, falls die Bundesregierung den Kündigungsschutz lockern oder die paritätische Sozialversicherung beschneiden sollte.
Kommentarvon ULRIKE HERRMANN
Doch wahrscheinlicher ist das umgekehrte Szenario: Nicht die Gewerkschaften entthronen Schröder – sondern ausgerechnet ein SPD-Kanzler führt die Machtlosigkeit der Arbeitnehmervertreter vor. Selbst wenn die Gewerkschaften Massen mobilisieren sollten, werden sie erleben, dass sie nur noch eine Minderheit repräsentieren.
Die Mehrheit der Deutschen glaubt ganz fest daran, dass Flexibilisierung eine gute Idee ist. Wie sehr, zeigt das Verhalten der anderen Volkspartei: Die Union würde sich niemals die gewerkschaftsfeindliche Verbalradikalität eines Friedrich Merz gestatten, wenn sie fürchten müsste, dass ihr Vizefraktionschef die Wähler zur SPD treibt.
Wir leben in einer Zeit der „Ich AGs“. Die meisten fühlen sich als die Chefs ihres eigenen kleinen Lebens. Das ist ein schönes und gutes Gefühl. Es macht mehr Spaß und ist produktiver, sich nicht ständig als Opfer der Verhältnisse wahrzunehmen.
Aber dahinter lauert auch eine neue Verzweiflung, die es 1974 nicht gab. Damals war die strukturelle Arbeitslosigkeit gerade ein Jahr alt, man hatte kaum einen Namen dafür. Inzwischen ist die verunsicherte Mitte zu jedem Experiment bereit, um weiter an die Vollbeschäftigung zu glauben. Denn sonst müsste sie sich ja eingestehen, dass ihre Arbeitskraft schnell überflüssig werden könnte – und dass die Ich AG oft gar keinen gesicherten Kundenstamm hat.
Und ob mit oder ohne Kündigungsschutz: Die Arbeitslosigkeit bleibt. Die verzweifelte Antwort wird sein, noch mehr zu flexibilisieren. Die Gewerkschaften fürchten ganz zu Recht, dass als Nächstes der Flächentarifvertrag bedroht ist. Schröder kann das Kanzleramt verlieren wie sein Großvater Brandt – aber nicht wegen der Gewerkschaften.
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