BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Deutschland, einig Disneyland

Die Bundesregierung befiehlt: Bis 2010 wird Deutschland kinderfreundlich. Sie weiß nicht, was sie tut

So aufgeregt hatte ich meine Frau das letzte Mal gesehen, als unsere Küche brannte. „Verkaufen, verkaufen, verkaufen!“, schrie sie in den Telefonhörer. Mit wirren Haaren saß sie im Morgenmantel auf dem Bett, die Augen weit aufgerissen wie Christoph Daum auf Koks. „Mir egal, ob der Kurs für das DaimlerChrysler-Paket gestern besser war“, brüllte sie in das Telefon. „Weg damit! Und die VW-Vorzugsaktien auch! Die Anleihe bei BMW wird storniert, das Konto bei der der Ford-Bank wird gekündigt. Und vergessen Sie nicht unseren stillen Anteil an Maserati. Bis heute 18 Uhr ist das alles verkauft, klar?“

Da schwanden sie hin, unsere Anteile an der deutschen Vorzeige-Industrie. Ich war nur froh, dass Anna nicht an meine Esso-Aktien gegangen war. Damit will ich schließlich unsere Solaranlage finanzieren. „Was ist denn los?“, fragte ich. „Wieso verkaufst du Aktien wie kurz vor dem Börsencrash?“ „Das ist los!“, rief meine Frau und warf mir die Zeitung zu. Da stand: Die Regierung will Deutschland bis 2010 zum kinderfreundlichsten Land Europas machen. Ich verstand immer noch nicht. „Und? Ist doch sehr lobenswert“, sagte ich naiv.

„Lobenswert? Mag sein. Aber es bedeutet Umsturz, Chaos, Anarchie.“ „Aber die Kinder sollen doch gar nicht an die Macht.“ „Nein, aber stell dir mal vor, Deutschland wird kinderfreundlich: Dann kippt hier alles. Dagegen war die russische Revolution ein Kinderfurz.“ „Aber warum verkaufst du Autoaktien?“ Ein langer Seufzer. Dann sagte Anna leise: „Manchmal verstehst du überhaupt nichts. Mach die Augen zu. Und dann stell es dir vor: Dieses Land KINDERFREUNDLICH. Was siehst du?“ „Ich kann es mir nicht vorstellen.“

„Aber ich. Also: Die Bahn führt statt des Kinderabteils das Single-Abteil ein. Busfahrer landen im Umerziehungslager. In Restaurants gibt es nur noch auf Antrag Erwachsenenstühle. Der Satz „wenn das meiner wäre“ wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren belegt. Erziehungsgeld wird erfolgsabhängig gezahlt. Kartoffelchips werden an Jugendliche nur gegen Vorlage einer Ehrenurkunde der Bundesjugendspiele verkauft. Und alle Autos werden in Wohngebieten automatisch auf 25 km/h gedrosselt.“

Aha. Auch den Autos ginge es an den Kragen. Daher die Panikverkäufe. Ich schaute noch einmal in die Zeitung. Natürlich reichte es uns nicht, Deutschland kinderfreundlich zu machen. Nein! Das kinderfreundlichste Land Europas musste es schon sein. Da würde sich unsere Regierung nicht lumpen lassen. Und drastische Maßnahmen ergreifen, wo sie schon mal dabei wäre, alles zu reformieren. Der Kinderstandort Deutschland war schließlich in den letzten Jahren schwer heruntergewirtschaftet worden. Die Steuern: viel zu niedrig. Die Sozialabgaben: ein Witz. Die mickerigen Lohnnebenkosten mussten endlich hoch. Anna hatte Recht. Auf uns wartete eine Revolution. Und das Schönste daran: Wir hatten ja Kinder. Wir würden siegen.

Dachte ich. Da sagte Anna: „Das ist übrigens nur der Plan der Regierung. Eine Menge Leute sehen das ganz anders.“ Sie zeigte auf eine halbseitige Anzeige auf der nächsten Seite. Da hieß es, die Pläne der Regierung seien „elternfreundlich“, aber nicht „kinderfreundlich“. Zu den Unterzeichnern gehörten unter anderem: der Dachverband der Kabelfernsehproduzenten, die Berufsgenossenschaft des Kakao verarbeitenden Gewerbes, die Interessenvertretung der Videospielehersteller und die Arbeitsgemeinschaft „Blöd ist geil“. Wer wirklich die Interessen der Kinder verfolge, müsse Folgendes durchsetzen: Die „Tagesschau“ wird durch „Deutschland sucht den Superstar“ ersetzt; Supermärkte werden verpflichtet, eine Familienpackung Schoko-Pops billiger anzubieten als ein Kilo Äpfel; Eltern dürfen nur bei Gefahr im Verzug die Taschen ihrer Kinder durchsuchen. Und nach 22 Uhr haben Erwachsene auf der Straße nichts mehr verloren.

„Irgendwie kommt mir das bekannt vor“, murmelte ich. „Es ist, als seien wir schon mal in diesem ultrakinderfreundlichen Land gewesen.“ „Waren wir auch“, sagte Anna. „Letzten Sommer. In Disneyland.“

Fragen zum Elternschutz? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahns ROTKÄPPCHEN