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Archiv-Artikel

Verbannung „light“

Nicht in den Dschungel, nicht ins Schwarzwaldhaus, sondern nach Sibirien schickt das ZDF die Kandidaten der Doku-Soap „Sternflüstern“ (20.15 Uhr)

VON DANIEL SCHULZ

Es wird wieder nach Sibirien verbannt. Ab heute läuft im ZDF „Sternflüstern“ – eine so genannte Erlebnisdokumentation über zwei deutsche Familien, die sich in der fernen Weltgegend zurechtfinden müssen. Fünf Monate sollen die Möchels aus Bayern und die Klapproths aus Sachsen-Anhalt in einem Dorf auf der Insel Olchon im Baikalsee leben. Sie müssen sich dort einen Job suchen und mit dem auskommen, was sie sonst noch so erwirtschaften – mit eigenem Vieh und Gemüsegarten. Doch allzu lange Zeit, Vorräte anzulegen, ist nicht, denn bald kommt der Winter, und der ist in Sibirien oft minus 40 Grad kalt. „Sternflüstern“ sagen die Sibiriaken, wenn der eigene Atem zu feinen Eiskristallen wird, die dann klirrend zu Boden fallen.

Weil bei RTL derzeit „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ läuft, distanzierte sich das ZDF erst einmal vom Bestrafungswäldchen der Privaten. So etwas wolle man nicht. Ganz ruhig, liebes ZDF, wir glauben euch.

Die Erlebnisdokumentation gibt es hierzulande seit dem Winter 2002, da sendete die ARD „Schwarzwaldhaus 1902 – Leben wie vor 100 Jahren“. Über sechs Millionen Zuschauer sahen der türkischstämmigen Familie Boro aus Berlin dabei zu, wie sie mit dem Leben in einem Haus zurandekam, das auf den Stand von vor 100 Jahren gebracht worden war.

Regisseur Volker Heise sagte, die Sendung sei deshalb so gut angekommen, weil sie Wissen auf eine emotionale Weise vermittelt habe. Natürlich habe es auch Voyeurismus gegeben, aber fasziniert habe die Zuschauer die Zeitreise und dass sie sich mit den Boros identifizieren konnten. Und: Es war gelebter Konsumverzicht. Wie auch die Reise nach Sibirien – selten Strom, kein fließend Wasser und wieder mal Plumpsklo.

Aber auch Russland selbst wird das Publikum locken. Das Land ist Dauerbrenner der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – keiner sendet so viele Dokumentationen und Reportagen über Russland. Und nicht etwa die Städte interessieren, sondern die weiten Landschaften. Seit vor einem Vierteljahrhundert Gerd Ruge und Fritz Pleitgen die ersten Reportagen aus der Taiga brachten, vergeht kein Jahr ohne mindestens eine Sibirien-Reportage. Erst im Frühjahr 2003 folgte ZDF-Russland-Korrespondentin Anne Gellinek den Spuren der Kosaken nach Sibirien: „Es ist vor allem unglaublich groß und man kann sich nicht vorstellen, dass man unter diesen klimatischen Bedingungen dort leben kann. Und für uns Fernsehleute sind es immer wieder die Bilder.“

Bilder, die der Zuschauer mag, knapp sechs Millionen sahen sich 1998 Bednarz’ „Balladen vom Baikalsee“. Mit Sibirien verbindet sich für viele Deutsche der Traum vom wilden Osten. Die einsamen Weiten sind Projektionsfläche für Sehnsüchte: Abenteuer und die Chance, sich selbst zu beweisen. Ein vermeintlich erfüllteres Dasein im Verein mit der Natur. Spirituell veredelt durch die dortigen schamanistischen Traditionen. „Ich denke, dass die Menschen hier in gewisser Weise mehr leben“, glaubt auch Mutter Möcheln, als ihre Familie gerade in Sibirien angekommen ist. Unter solch positive Schwingungen mischen sich die düsteren Erzählungen zurückgekehrter deutscher Kriegsgefangener, das Wissen um Stalins Gulags. Der in Deutschland lebende Schriftsteller Wladimir Kaminer spottete einmal, Sibirien sei eine „deutsche Seelenlandschaft“.

Kaminer schreibt auch über „Sternflüstern“, für das Tagebuch zur Serie. Er hofft, dass es den Deutschen hilft, „ihr Sibirientrauma zu überwinden“, wenn sie sehen, wie hart man arbeiten muss, um dort zu überleben.

Familie Boro aus dem Schwarzwaldhaus versaute die Heu-Ernte aus Sentimentalität. Weil die Tochter Geburtstag hatte, verschob der Vater die Ernte um einen Tag. Ergebnis: Die Arbeit eines Jahres war dahin, der Hof wäre am Ende gewesen. Die Boros mussten aber nicht bleiben, sie konnten nach Hause. Auch „Sternflüstern“ wird uns wohl sehr viel mehr über uns selbst sagen als über Sibirien.