„Zeigt eure Fehler!“

In der Galerie ScheiblerMitte zeigt Malcolm McLaren unter dem Titel „Shallow“ bewegte Porträts. Loops aus alten Sexfilmen werden mit musikalischen Collagen untermalt. Im Interview erklärt der Erfinder der Sex Pistols, warum Scheitern groß, Punk das Ende der Romantik und Langsam das neue Schnell ist

Malcolm McLaren wurde 1946 in London geboren. Er studierte Kunst unter anderem bei dem britischen Popkünstler Peter Blake. Mit Vivienne Westwood betrieb er in den Siebzigern einen Laden auf der Londoner King’s Road. Dort kauften Members of Parliament gern Gummimasken und beschwerten sich dann über den Preis, erzählte McLaren vor kurzem in der American Academy. Die jungen Leute, die sich mit Gummi-T-Shirts eindeckten und gleich anzogen, waren viel schlechter dran. Sie wurden manchmal direkt vor der Tür verhaftet. McLaren erfand die Sex Pistols und machte seitdem Musik. Auf seine alten Tage hat er die Liebe zur Kunst wiederentdeckt. Bei ScheiblerMitte in der Charlottenstraße 2 ist bis zum 13. Dezember seine Arbeit „Shallow 1–21“ als Teil der Gruppenausstellung „Musical Paintings“ zu sehen. GUT

INTERVIEW ULRICH GUTMAIR

taz: Herr McLaren, Ihre neue Arbeit besteht aus 21 Videoclips. Oder liege ich falsch?

Malcolm McLaren: Ehrlich gesagt sehe ich diese Arbeiten nicht als Videoclips. Was ich hier zu machen versucht habe, sind bewegte Porträts. Seit ich in den Sechzigern und frühen Siebzigern Kunst studiert habe, habe ich eine Obsession: der Look, das Aussehen von Musik, das musikalische Ende der Malerei.

War das schon so, als Sie den Modeladen auf der King’s Road hatten und die Sex Pistols erfanden?

Ich habe mir Musiker gesucht, die ich nicht im eigentlichen Sinn dirigiert habe, aber doch im Sinn von Themensetzung und Inspiration. Meine Technik bestand darin, ein Album wie eine Karte auf der Wand aufzumalen. Aufgelistet wurde die Idee, das Tempo, das Narrativ, falls es überhaupt eines gab, und die musikalischen Ingredienzen, die benutzt werden sollten. Ein Stück Strauss, das mit einer Jeff-Beck-Gitarre kombiniert werden sollte oder ein Kriegsgesang der Zulu mit einem Dancefloorbeat. Ich machte Musik also wie ein Filmregisseur ohne Kamera.

Wie kam es zu Ihrer neuen Arbeit „Shallow“?

Im letzten Jahr wurde ich von einer Gruppe junger Künstler angesprochen. Ich sollte an einer Ausstellung in New York teilnehmen: Im Zentrum dieser Ausstellung steht das Wort „shallow“, sagten sie. Ich fragte, was soll das sein, „flach“? Ganz genau, sagte einer der Künstler, Sie werden uns zeigen, was flach ist! Ich fuhr in Urlaub und versuchte mich in die Kunstakademie zurückzuversetzen. Ich fragte mich, was mich damals umgetrieben hatte, um meine eigenen Wünsche artikulieren zu können. Was waren die Gefühle, die man als Teenager hat, wenn man sich für Popmusik interessiert? Man wollte dem Mittelklassehaushalt entkommen, in dem man lebte, dem Lehrplan in der Schule, der Idee einer Zukunft, für die man sich nicht interessierte, der Karriere, von der man nichts hören wollte. Was man wirklich wollte, wenn man Rock’n’Roll gehört hat, war Sex, und zwar viel. Man wollte sich befreien. Und so simpel und albern das klingen mag, das hat mich inspiriert.

In keinem der 21 Teile von „Shallow“ ist Sex zu sehen.

Ich habe mich daran erinnert, wie ich als Kunststudent in einem besetzten Haus lebte. Manchmal nahmen wir uns diese kleinen, lustigen 8-mm-Projektoren zur Hand und warfen Sexfilme an die Wand. Die waren nicht von Pornostars gemacht worden, weil es damals noch gar keine Pornostars gab. Das waren Studenten, die Spaß hatten. Die billige Filme machten, um ein bisschen Geld zu verdienen. Es war gerade die Gewöhnlichkeit der Szenarien – die auch damals schon zu dem hinführten, was man in der Pornoindustrie den „Money Shot“ nennt –, die mich daran interessiert haben. Es war die Körpersprache in diesen Eingangsszenen, die mich fasziniert hat.

Diese Körpersprache könnte ich mit der eben genannten Idee von Musik kombinieren, dachte ich mir. Zurück in New York, begann ich also nach alten Sexfilmen zu suchen. Ich suchte nach drei oder vier Sekunden langen Einstellungen, die diese Körpersprache zeigten. Und wenn man diese Sequenzen verlangsamte, dann zeigten sie davon noch mehr. Und plötzlich konnte man in etwas, das erst flach ausgesehen hatte, etwas Tiefes finden. Ich wollte daraus etwas machen, das keine Geschichte erzählt, das sich nicht synchron zur begleitenden Musik verhält, sondern völlig unverbunden ist.

Die Musik von „Shallow“ ist voller Samples.

Während ich nach diesen alten Filmen suchte, kam ich zu der Überzeugung, dass ich die gesamte Geschichte der Popmusik benutzen sollte. Ich habe das ja alles erlebt, von den Fünfzigern bis heute, ich habe mit acht Bill Haley gehört. Ich nehme das ganze Potpourri, schneide es auseinander und werfe es wieder zusammen. Es geht darum, die Kultur neu zu erfinden – aber ohne dass es Sinn ergibt. Einen Refrain und eine Strophe aus zwei Stücken aus verschiedenen Genres zusammenzukleben, das von einem gewöhnlichen Groove wie von Tesafilm zusammengehalten wird.

In „Shallow“ scheint eine Nostalgie für die revolutionäre, Energie und Unruhe stiftende Kraft der Sexualität auf.

Es war damals unschuldiger, diese Filme entstanden vor dem Beginn der Pornoindustrie. Fast alle Leute, die man in diesen Filmen sieht, sind keine Schauspieler. Für mich war das ein bewegender Moment, weil ich in dieser Ära aufgewachsen bin. Aber erstaunlicherweise waren auch die jungen Leute in ihren frühen Zwanzigern in New York vollkommen verzaubert von dieser Arbeit. Ich frage mich, ob es aufgehört hat, nostalgisch zu sein, oder ob es sich eher um eine Neuerfindung von Gefühlen handelt, die schlicht vergessen worden sind. Heute leben die Leute in einer Hardcore-Zeit. Naivität wird dadurch zu etwas Wertvollem.

Heute nutzt noch die provinziellste Werbeagentur ähnliche Techniken wie die Situationisten und die Punks. Hat die Idee kultureller Subversion noch irgendeinen Sinn?

Wir suchen heute ständig nach Dingen, die authentisch sind, an die man glauben kann. Und Unschuldiges schockiert die Leute heute ungemein. Wirklich subversiv aber ist Langsamkeit. Wir wollen keine Schnelligkeit, und wir interessieren uns fürs Lokale. Wir essen kein Fastfood. Wir sparen. Wir fliegen nicht gerne über den Atlantik und fahren sowieso lieber mit dem Zug. Wir schauen in unserer Umgebung genauer hin. Wenn man sich die Dinge nicht lang genug anschaut, das habe ich von meiner neuen Arbeit gelernt, dann sieht man sich nicht. Jemand hat mich gefragt, warum ich für „Shallow“ eine Szene verwendet habe, in der ein Mann den Teppich saugt. Ich habe ihm geantwortet: Schau dir an, wie er staubsaugt! Das ist doch eine unglaubliche Art und Weise, staubzusaugen! Er wartet darauf, dass es endlich an der Tür klopft und das Mädchen kommt, mit dem er ficken will.

In einem der interessantesten Teile von „Shallow“ ist eine Frau zu sehen, die eine Treppe herunterkommt und dann von links nach rechts durchs Bild wandert. Immer wieder.

Ich mochte die Architektur dieser Einstellung sehr, und ich habe die Sequenz immer weiter verlangsamt, bis ich Dinge sah, die ich vorher überhaupt nicht gesehen hatte. Ich dachte, sie sei nackt, aber nein, sie trägt Strümpfe und Schlüpfer. Was man nicht sieht, ist, wie sie tatsächlich die Party betritt, die in einer Orgie endet. Ich habe Zugang zum Multitrackband der Originalaufnahme von Joy Division’s „Love will tear us apart“ bekommen. So konnte ich Curtis’ Stimme im Refrain benutzen. Als Gegenstück baute ich den Refrain des eher geschmacklosen „Love Will Keep Us Together“ von Captain & Tennille ein.

Wie wichtig sind Widersprüche für Ihre Arbeit?

Widersprüche machen uns auf wunderbare Weise unperfekt. Ich werde nie vergessen, wie einer meiner Professoren die Arbeiten des Spätimpressionisten Pierre Bonnard erklärte: „Es sind die Fehler, die Fehler sind es, die ihn von einem Amateur in einen großen Künstler verwandelt haben. Er zeigte seine Fehler!“ Das sind die Dinge, die mich geformt haben, das war Cash from Chaos: Es sind die Fehler in der Musik, die zählen! Zeigt, dass ihr nicht gut spielen könnt, das ist viel besser, als es so aufzunehmen, als ob ihr spielen könntet! Es ist groß, seine Fehler zu zeigen!

Natürlich hielten mich diese Kids für vollkommen verrückt. Kannst du uns nicht einen guten Produzenten besorgen, der kann das frisieren, fragten sie. Nein, nein, ihr müsst die Fehler zeigen! Ich predigte dieselben Worte, die mich gelehrt worden waren. Die Idee war seitdem immer, dass etwas Falsches richtig aussehen konnte. Meine Partnerin Vivienne Westwood und ich produzierten also Hosen, die so aussahen, als würde man nicht in ihnen laufen können: Das ist der Punkt, diese Hosen symbolisieren, wo wir heute stehen. Das sind die Gefühle, die ich in der Welt da draußen habe! Diese Hosen wurden zu Punk-Ikonen und legitimierten den Look der Musik. Die Widersprüche wurden extrem mächtig.

Ohne Kunsthochschule also tatsächlich kein Punk.

All das wäre gar nicht möglich gewesen, wenn Leuten wie mir nicht in der Art School Dinge gelehrt worden wären, die überall sonst längst ausgetrieben worden waren. Sie überlebten noch eine Dekade an der Kunstakademie, das waren die Sixties, dann waren sie auch dort verschwunden. Man brachte mir bei, dass Scheitern viel wichtiger ist, als Erfolg zu haben. Keine Angst vor dem Scheitern zu haben ist die Voraussetzung dafür, um überhaupt die Regeln brechen zu können. Und das war deine Aufgabe als Künstler. Die Regeln zu brechen, die Kultur und – wenn auch nur für einen Moment – das Leben zu verändern: „Das ist ein einsamer Beruf! Denkt nicht in den Begriffen von Erfolg! Entfernt das Wort Karriere aus eurem Wortschatz! Das ist eure Rolle, eine undankbare, elende Aufgabe! Ihr werdet keinen Erfolg haben! Und wenn ihr doch ankommen solltet, seid euch bewusst, dass ihr vermutlich sterben werdet.“

No Future.

Absolut. Diese Leute übergaben uns den Stab, der seit dem 19. Jahrhundert, den Tagen von William Blake, immer weiter gereicht worden war. Sie hielten an den alten Werten fest, sie waren die letzten Romantiker. Ich habe immer gesagt, dass Punk der letzte romantische Aspekt in der Popkultur war. Warum sollte das irgendwen heute noch interessieren? „Seid vernünftig, verlangt das Unmögliche! Es ist verboten, zu verbieten.“

Das klingt heute nur noch süß, das kauft dir niemand mehr ab, die Naivität und Unschuld sind verschwunden. Für mich bringt „Shallow“ die Unschuld zurück. Sich überhaupt die Mühe zu machen, nach diesen alten Filmen zu suchen. Wen interessiert das heute überhaupt? Ich habe mir die Mühe gemacht, es war aufregend für mich, es brachte mir Momente zurück, die wertvoll für mich sind. Es braucht seine Zeit, bis man sich selbst die Frage beantworten kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Das ist nicht so leicht, wenn man jung ist. Im Alter ist es egal, ob man einen schäbigen Anzug trägt. Man kann den Vorhang aufreißen und sehen, was einen wirklich bewegt.