: „Ein Tanz auf dem Hochseil“
Seit 1995 ist Jürgen Domian auf Sendung. Tief in der Nacht spricht er im Radio und im Fernsehen mit Menschen über ihre Probleme. Am Anfang heftig kritisiert, ist der Medienseelsorger inzwischen Träger des Bundesverdienstkreuzes. Ein Gespräch über Freaks, Heimat und Einsamkeit
VON HENNING KOBER
Im Kölner WDR-Funkhaus schieben sich zwei Paternoster vom Foyer in die Obergeschosse. Rotes Holz, vielleicht Buche gebeizt. Daneben ein Schild: „Betreten nur für Betriebsmitarbeiter“. Da kommt ja schon einer. Jürgen Domian grüßt die Dame am Empfang, dann den Besucher. „Guten Tag.“ Für uns ist es kurz nach fünf am Nachmittag. Für den Moderator ist es früher Morgen.
taz.mag: Wie werden Sie denn am liebsten angesprochen: Jürgen oder lieber Domian?
Jürgen Domian: Meinen Vornamen Jürgen mag ich nicht besonders, inzwischen nennen mich viele einfach Domian. Das ist mein richtiger Nachname, kein Pseudonym. Der Name kommt von einem verarmten hugenottischen Raubrittergeschlecht, das aus Frankreich vertrieben wurde und sich unter dem Alten Fritz in Westpreußen bei Danzig niederließ. Dort wurden auch meine Eltern geboren.
Heute gut geschlafen?
Ausnahmsweise ja. Sonst ist das ein großes Problem. Durch die Nachtarbeit ist mein Lebensrhythmus ein komplett anderer.
Sie haben vor einem Jahr das Bundesverdienstkreuz bekommen. Können Sie erklären, warum?
Als der Brief vom Kölner Oberbürgermeister kam, habe ich mich unheimlich gefreut. Es ist eine hohe Anerkennung für dieses Format, das wir seit neun Jahren machen. In unserer Sendung geht es viel um Tabubereiche, oft ist das ein Tanz auf dem Hochseil. Dann von allerhöchster Ebene aus Berlin den Segen zu bekommen finde ich für mich und mein Team sehr toll.
Sie haben jede Nacht mit Menschen zu tun, die schwere Probleme haben. Sehen Sie uns in einer Gesellschaft von Freaks?
Wir leben in einer Gesellschaft von sehr einsamen Menschen. Es gibt so viele ohne nahen Bezugspartner, ohne Freund. Junge, Alte, Gebildete, Studenten, alles. Ich hatte vor kurzem den Fall einer jungen Frau, einer Werbemanagerin aus Ostdeutschland, die einen riesigen Lottogewinn gemacht hatte. Sie arbeitete jeden Tag hart und erfolgreich, aber hatte niemand, mit dem sie sich über den Gewinn freuen konnte.
Warum entwickelt sich die Gesellschaft in diese Richtung?
Unsere westliche Lebensform, die sich sehr an Äußerlichkeiten und Konsum orientiert, erlebte in den letzten Jahrzehnten einen enormen Werteverfall. Wir stellen die Sinnfrage nicht mehr und knallen uns zu mit schnellem materiellem Spaß. Geraten wir dann in extreme Situationen, merken wir, dass so viel fehlt. Alles dreht sich nur noch um das goldene Kalb „Ich“. Man muss aber nicht immer jeden Druck in sich ausleben und dem anderen jede Seelenblähung zumuten.
Ist das Perverse chic?
Die Zeit, in der ständig eine neue Sau durchs Fernsehen gejagt wurde, ist schon wieder vorbei. Wen interessiert es heute noch, wenn bei „Vera am Mittag“ ein Windelfetischist auf der Bühne sitzt? Inzwischen weiß jeder, dass es so etwas gibt, und es ist gut, dass diese Menschen nicht im Verborgenen leben müssen. Sie sind nicht pervers. Sie gehören zum bunten menschlichen Spektrum. Die höchsten Quoten erreichen wir aber mit den normalen Themen.
Machen nicht erst Defekte und Normabweichungen den Menschen interessant?
Menschen, die Extremes erfahren und Trauriges oder Dramatisches erlebt haben, sind natürlich spannender. Es scheint fast so etwas wie ein Fluch des Lebens zu sein, dass man Weisheit nur durch Leid erlangen kann.
Sie hatten selbst mit Mitte zwanzig eine schwere Krise, waren fress-, mager- und alkoholsüchtig. Werden die Wurzeln solcher Probleme in der Kindheit gelegt?
Es wird dir sicherlich in der Kindheit eine Veranlagung mitgegeben, die, wenn Schwierigkeiten in deinem Leben auftauchen, sich leichter entwickeln können.
Haben Sie in Gummersbach, wo Sie aufgewachsen sind, den Fluch der Kleinstadt erlebt?
So muss ich es leider sagen – entschuldigt, liebe Gummersbacher. Köln war damals irre weit weg, es gab noch keine Autobahn, und ich wuchs auf in einer sehr engen, christlich geprägten Welt. Hinzu kam, dass ich zu Gummersbach nie ein Heimatgefühl entwickelt habe. Übrigens die ganze Familie nicht. Für meine Eltern war immer Westpreußen ihre Heimat. Als Jugendlicher hatte ich starke Akne und deshalb große Minderwertigkeitsgefühle. Aber noch demütigender war für mich der Spruch meiner Mitschüler: „Du bist der Sohn der Putzfrau.“ Das wirkte wahnsinnig und ist sicher auch einer der Gründe, warum ich in die Öffentlichkeit wollte.
Sie waren als Jugendlicher fanatischer Christ, sind dann aus der Kirche ausgetreten. Entdecken Sie trotzdem noch manchmal Ansichten, die Sie unbewusst geprägt haben?
Ich war erschreckend fanatisch christlich, und genauso fanatisch habe ich alles Christliche in der ersten Zeit meiner Abkehr vom Glauben bekämpft, weil ich diese Prägungen aus mir raushaben wollte. Mittlerweile finde ich, dass die humanistischen Leitsätze des Christentums sehr respektabel sind. Die Zehn Gebote könnte ich heute unterschreiben, diese zehn Aussagen regeln das menschliche Leben sehr gut. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das ist eine grandiose Vorgabe.
Sie bezeichnen sich als bisexuell; war es schwer, das zu akzeptieren?
Es war eine der Ursachen für meine Bulimie. In dieser Zeit löste ich mich vom Christentum, meine ganze Lebensstruktur veränderte sich. Ich merkte, dass ich irgendwie nicht normal war, aber absolut schwul war ich auch nicht. Bisexualität war damals nur als wissenschaftlicher Begriff bekannt. Ich eierte rum und wusste überhaupt nicht mehr, wer ich eigentlich bin.
Haben Sie daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?
Weit weg war ich davon nicht, und dadurch, wie ich meinen Körper behandelt habe, tat ich es ja auch. Ich hab gefressen, gesoffen, mir war alles scheißegal. Für mich war sowieso klar, du wirst keine dreißig.
Ihre Sendung ist eine Art öffentliches Sorgentelefon. Wie viel Voyeurismus vermuten Sie bei den Zuschauern?
Sehr viel, das ganze Fernsehen lebt von Voyeurismus. Ich bin auch ein Voyeur. Ich glaube, dass man im Fernsehen und im Radio alles präsentieren kann, wenn man die Menschen dabei nicht wie in manchen Talkshows vorführt.
Warum treten dort heute fast nur noch Schauspieler auf?
Es ist mir ein Rätsel, warum das Publikum das akzeptiert. Außerdem ist es völlig absurd, weil es ja so viele Menschen gibt, die spannende Geschichten zu erzählen haben. Es schadet auch uns, weil die Leute das Vertrauen verlieren. Ich glaube, dass unsere Sendung den Ansprüchen einer Dokumentation standhält. Am gleichen Tag der Zugkatastrophe von Eschede hatten wir einen Jungen, der am Nachmittag seine Eltern verloren hatte. So tragisch das ist, so interessant ist es auch aus der journalistischen Sicht.
Mit dem Rat, den Sie einem Anrufer geben, spielen Sie oft Schicksal. Ängstigt Sie das?
Wer mir seine Geschichte erzählt, bekommt eine ehrliche, subjektive Meinung, die er nicht übernehmen muss. Trotzdem ist es eine Gratwanderung. Manchmal beschäftigt es mich hinterher noch intensiv. Wir hatten in der Sendung einen jungen Mann, dessen kleiner Bruder von einem Nachbarn sexuell missbraucht worden war. Der Täter sollte in den nächsten Tagen aus der Haft entlassen werden, und der Anrufer dachte nun über Selbstjustiz nach. Dieser Mann war mir so sympathisch, dass ich ihm in der Sendung nicht klar abgeraten habe. Am nächsten Tag habe ich ihn dann noch mal privat angerufen. Zum Glück ist er auf meine Argumentation eingegangen, dass es niemandem nützt, wenn er ins Gefängnis muss. Am wenigsten seinem Bruder, für den er eine wichtige Bezugsperson war.
Denken Sie darüber nach, wie die Anrufer, mit denen Sie sprechen, aussehen?
Ja, das vereinfacht das Gespräch. Die meisten Anrufer sehen mich zeitgleich im Fernsehen. Die Kameras sind für mich die Augen meines Gegenübers.
Viele Politiker sehen Ihre Sendung. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wenn man den ganzen Tag von anderen Politikern und Journalisten umgeben ist, kann ich gut verstehen, dass man das Leben von unten aufsaugt. Teilweise war ich aber sehr überrascht, wer uns alles zuschaut. Einmal sprach mich Hans-Dietrich Genscher an und erzählte mir, dass er die Sendung auch hin und wieder verfolgt.
Würden Sie eine Einladung zum Abendessen mit dem Bundeskanzler annehmen?
Sofort, und ich würde mich gut vorbereiten.
Was ist die größte Ungerechtigkeit in Deutschland?
Dass der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges zu wenig gedacht wird. Ich komme aus einer Flüchtlingsfamilie, die das Grauen schlechthin erlebt hat. Meine Eltern sind aus Westpreußen mit nichts nach Gummersbach geflohen und wurden von den Einheimischen naserümpfend als die Fremden aus dem fernen Osten empfangen. Hätte ich all das nicht zu Hause in der Familie erfahren, ich wüsste nichts darüber. In der Schule und auch an der Uni hat man das nur vorsichtig am Rande besprochen. Deshalb war ich auch Günter Grass so dankbar, als er „Im Krebsgang“ veröffentlicht hat. Zum ersten Mal hatte sich jemand aus einer moralisch einwandfreien Ecke dieser Thematik angenommen. Ich merke auch, dass junge Leute viel mehr Verständnis und Sensibilität zeigen als Leute meiner Generation oder die in dieser Frage gehirngewaschenen 68er.
Haben Sie zusammen mit Ihren Eltern die alte Heimat besucht?
Nein, mein Vater will das nicht mehr sehen. Es tut ihm weh, und ich bemerke das Gefühl auch bei mir. Ich möchte da nicht hinfahren, auch weil dieser Ort verbunden ist mit einer Gräueltat von Polen an meinen Großeltern.
Sie bezeichnen sich als Einzelgänger – was macht einen dazu?
Ich hatte schon als Kleinkind eine ausgeprägte Sehnsucht nach Autonomie. In Gesellschaft von Erwachsenen habe ich mich wohler gefühlt als bei der ganzen Kindermischpoke. Ich bin Einzelkind, wurde aber eigentlich nicht so erzogen.
Hätten Sie gern Geschwister gehabt?
Ja, einen großen Bruder oder auch eine kleine Schwester. Vielleicht wird man durch Geschwister etwas lockerer.
Ist es gut, ein Einzelgänger zu sein?
Ich weiß, dass ich es allein kann. Mich packt nicht wie andere die Panik, wenn ich etwas allein machen muss. Aber es macht das Leben auch schwer, wenn man Menschen oder Gruppen aus dem Weg geht.
HENNING KOBER, 22, lebt als freier Autor in Berlin. „Domian“ sah er zum ersten Mal mit vierzehn, als der mit einer Anruferin über ihren Job bei einer Telefonerotik-Agentur sprach