: Die Kreativen rücken an
Generell werden 16 amerikanische Bundesstaaten unter dem Begriff Südstaaten zusammengefasst. Im engeren Sinn bezeichnet er die elf Staaten, in denen Sklavenhalterei erlaubt war und die sich 1860/61 nach der Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten von der Union abspalteten. Die elf Staaten (South Carolina, Mississippi, Florida, Alabama, Georgia, Louisiana, Texas, Virginia, Arkansas,Tennessee und North Carolina) bildeten die Konföderierten Staaten von Amerika, unterlagen aber den Nordstaaten im Sezessionskrieg (1861–1865). Die nationale Regierung erließ nach Kriegsende Maßnahmen zur Abschaffung der Sklaverei, die Rassentrennung blieb jedoch im Prinzip bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts bestehen. Gemeinsam war den Südstaaten bis ins 20. Jahrhundert die landwirtschaftliche Ausrichtung. Zurzeit befindet sich die Region in einem ökonomischen Wandel, der die traditionellen soziokulturellen Gegensätze zum Norden auflöst. Von den zehn US-Städten mit dem höchsten Anteil an schwarzer Bevölkerung liegen sieben im Süden der USA. TAZ
AUS NEW ORLEANS VEIT MEDICK
Sie können wieder feiern, die Menschen in New Orleans. Der Zorn der letzten Jahre ist für einen Moment vergessen. „Katrina“ und Bush, die beiden Chiffren für den modernen Rassismus in den USA, sind jetzt weit weg. Es wird alles anders.
Barack Obama, der künftige Präsident der USA, hat soeben seine Siegesrede beendet. Die Gassen sind voll, die Menschen schleppen ihre Instrumente auf die Straße der Hauptstadt des Jazz und improvisieren, was das Zeug hält. Im Café Negril auf der Frenchman Street in der historischen Innenstadt spielt eine fünfköpfige Gruppe, jeder Jazzklassiker hat plötzlich eine Obama-Strophe. „Wir haben heute Geschichte geschrieben“, brüllt der Sänger der Band ins Mikrofon. Um ihn herum jubeln dutzende Weiße, Schwarze und Latinos. Ein uramerikanischer Moment.
Geschichte – das scheint nicht so ganz zu passen, wenn man einen ersten Blick auf die Wahlergebnisse in Louisiana und den Südstaaten wirft. Ist nicht alles gleichgeblieben? Louisiana ist mit 19 Prozentpunkten Vorsprung an die Republikaner gegangen. New Orleans, die größte Stadt des Staates, hat zwar mehrheitlich Obama gewählt, war aber schon immer eine liberale Oase in der konservativen Wüste. In Arkansas gewann John McCain mit 20, in Alabama am Ende gar mit 22 Prozent Abstand. In Mississippi und Tennessee sah es für die Demokraten auch nicht viel besser aus.
Und doch bewegt sich etwas im Süden. Virginia, ein Staat, der seit 1976 in republikanischer Hand war, votierte deutlich für Obama. In North Carolina, mit einer Ausnahme seit über 50 Jahren republikanisch regiert, führt Obama mit ein paar tausend Stimmen – das Votum der Briefwähler steht noch aus. Die dortigen Senats- und Gouverneurswahlen hatten die Demokraten am Dienstag schon früh für sich entschieden. Auch der Südzipfel Florida hat den Republikanern den Rücken gekehrt. Und in Georgia ist ihr Vorsprung von 17 Prozentpunkten im Jahr 2004 auf nicht einmal fünf geschrumpft. In zwölf der Südstaaten zusammen konnte Obama den Anteil der Demokraten gegenüber 2004 um mehr als ein Fünftel auf rund 15 Millionen Stimmen steigern – McCain und seine Partei stagnieren.
Für Chris Komm vom Institute for Southern Studies in Durham, North Carolina, war der Dienstag daher ein „großer Tag für den Süden“. Er staunt, dass Millionen von weißen Südstaatlern und knapp 40 Prozent der Wählenden in Virginia und North Carolina einem schwarzen Kandidaten den Weg ins Weiße Haus geebnet haben. „Und Millionen von Afroamerikanern, von denen die Hälfte im Süden lebt, wissen jetzt, was es heißt, demokratisch mitreden zu können. Der Tag ist doppelt historisch.“
Jahrzehntelang war der Süden eine scheinbar uneinnehmbare Bastion der Republikaner. Die Staaten, geprägt von den Demütigungen des Bürgerkriegs und den Erfahrungen mit der Sklaverei, sahen sich als Gegengewicht zum elitären Norden. Der wiederum definierte den Süden als einen Nachbarn, der statt Erfolg versprechender Unternehmen lieber rassistische Geheimbünde oder fundamentalistische Kirchen gründete. Als Nachbarn, der die industrielle Modernisierung vernachlässigte und sich auf den Agrarbereich beschränkte. Der urbane, weltoffene Zentren verhinderte und sich stattdessen an Traditionen und Moralvorstellungen aus dem letzten Jahrhundert klammerte. Als Beleg dienten die hohe Zahl der Exekutionen und reichhaltige private Waffensammlungen. Der andere Süden, die Wiege der amerikanischen Musik und Literatur, wurde durch diesen Klischees oftmals überlagert.
Für die Demokraten war der Süden 1964 zum Löwenkäfig geraten. Damals hatte Präsident Lyndon B. Johnson den Civil Rights Act unterzeichnet, der der schwarzen Bevölkerung mehr Rechte sicherte – womit er Millionen weiße Wähler verprellte. Kein einziger demokratischer Präsidentschaftskandidat schaffte es seither, eine Mehrheit in den Staaten der ehemaligen Konföderation zu gewinnen. Al Gore und John Kerry schlossen frühzeitig alle Wahlkampfbüros und gewannen 2000 und 2004 nicht einen einzigen Staat.
Der plötzliche Erfolg Obamas hat mehrere Ursachen. Die hohe Wahlbeteiligung unter Afroamerikanern trug viel zum guten Abschneiden bei. Auch seine Basisarbeit und effektive Mobilisierungsstrategie wird ihm so schnell niemand nachmachen.
Doch es gibt einen weiteren Grund, der tiefer liegt und dafür sorgen könnte, dass die Demokraten im Süden künftig generell wieder stärker mitreden: Basierend auf wirtschaftlichen und demografischen Verschiebungen vollzieht sich im Süden ein rasanter kultureller Wandel. Die traditionellen Wirtschaftszweige Bergbau, Stahlproduktion oder Baumwollanbaus wichen in den letzten Jahren verstärkt dem Dienstleistungssektor und der Computerindustrie. Städte wie Atlanta, Charlotte oder Orlando florieren und sorgen mit ihren Produktionsstätten für hohe Zuzugsraten von jungen, gebildeten und liberalen Arbeitnehmern aus dem Norden. Die Cappuccino-Kultur ist angekommen.
Allein Atlanta, die Hauptstadt Georgias, verzeichnete laut Internetdienst City Data seit 2000 ein Bevölkerungswachstum von 20 Prozent. Und das High-Tech-Zentrum Raleigh in North Carolina zog nach Angaben des statistischen Bundesamts der USA zwischen 2000 und 2005 knapp 55.000 Menschen an, bei einer Gesamtbevölkerung von gerade einmal 380.000. Ähnliche Beispiele finden sich in Virginia und Florida. Laut einer Studie der Brookings Institution in Washington konnte Florida zwischen 2000 und 2007 allein durch Zuzügler ein Bevölkerungswachstum von knapp 14 Prozent verbuchen. Rund 70 Prozent der 900.000 Zugewanderten kamen aus dem Nordosten der USA, in Virginia ist die Quote exakt dieselbe.
Für die republikanische Partei haben diese Wanderungsbewegungen langfristig dramatische Folgen. Gut gebildet und an der weltoffenen Ostküste sozialisiert, stärken die Zuzügler in den Metropolen die Wählergruppen der Demokraten. Traditionell den Republikanern nahe stehende Schichten hingegen schrumpfen. „Die Wählerschaft der weißen Arbeiter nimmt rapide ab, während die Gruppe der Weißen mit Hochschulabschluss wächst und die der Minderheiten noch schneller zunimmt“, schreibt der Autor der Brookings-Studie, William Frey. Ein Trend, der nach Frey in den nächsten Jahren noch zunehmen dürfte.
Die Auswirkungen auf die politische Landkarte des Südens zeigten sich bereits bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl. Nahezu alle südlichen Großstädte mitsamt ihrer Umgebung sind demokratische Hochburgen. In Raleigh gewann Obama mit zweistelligem Vorsprung, in Charlotte stimmten 62 Prozent der Wähler für ihn, in Jackson, Mississippi holte er gar 70 Prozent. Seine größten Unterstützer waren dort die Wähler mit Hochschulabschluss sowie die 18- bis 30-Jährigen.
Auch Meinungsforscher John Zogby sieht das Ende der republikanischen Vormachtstellung kommen. Er glaubt, die entstehende „kreative Klasse“ in den urbanen Zentren werde die Südstaaten langfristig in Rassen-, Geschlechter- und Religionsfragen liberalisieren. Ein Beispiel lieferte der Senatswahlkampf in North Carolina. Vor Wochen noch galt die Wiederwahl der prominenten republikanischen Senatorin Elizabeth Dole, Frau des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Bob Dole, als sicher. Als im Sog der Obama-Euphorie ihr Sitz zu wackeln begann, attackierte sie ihre Gegnerin, die Demokratin Kay Hagan, in einem Fernsehspot als gottlos, atheistisch und unmoralisch. Die Evangelikalen waren ihr letzter Rettungsanker. Doch die Zeiten haben sich geändert. Der Angriff bewirkte das Gegenteil des Beabsichtigten – Dole verlor zweistellig.
Bislang ist der Wandel vor allem ein Phänomen der Ostflanke des Südens. In Staaten wie Alabama, Louisiana, South Carolina oder Arkansas sind die traditionellen Bindekräfte noch weitgehend intakt. Republikaner werden dort noch auf Jahre die Wahlmänner einsammeln können, ohne richtig Wahlkampf machen zu müssen. Und doch ist die Bastion der Republikaner geschrumpft und wird ihnen in künftigen Wahlen weniger Zuspruch bringen als gewohnt. Südstaatenforscher Chris Komm hat dafür eine Formel: „Der Süden ist nicht Rot und nicht Blau. Der Süden ist längst Lila.“
Von Lila will der Sänger im Café Negril in der Innenstadt von New Orleans offenbar nichts wissen. Er ist viel weiter. Für ihn gibt es bald nur noch Demokraten. „Republikaner – haut verdammt noch mal aus diesem Laden ab“, singt er. Aber von denen ist sowieso keiner da.