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Archiv-Artikel

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Immer mehr verheddern sich im weltweiten Netz und finden nicht mehr heraus

von LUCIA JAY

Sabine (Name von der Red. geändert), 23, verbringt seit einem Jahr zwischen 5 bis 12 Stunden täglich im Internet. Sie findet nichts dabei. Als sie aber im Netz auf den Test vom Amerikanischen Psychologenverband, „Sind Sie internetsüchtig?“, stößt, merkt sie, wie groß ihre Abhängigkeit wirklich ist.

Die Zeit

„Ich bin aus Langeweile und weil ich keinen Fernseher hatte ins Internet. Die Möglichkeiten waren großartig und spannend.“ Als Sabine auf eine so genannte Internet-Community stößt, die ihr zusagt, wird sie immer mehr gefangen von dem Zwang, sich mit den anderen im Netz auszutauschen. „Es ist wie Ausgehen und neue Leute kennen lernen, nur ohne Ausgehen.“

Immer mehr Menschen ziehen die virtuellen Welten der Realität vor. Viele verbringen mehr Zeit im Internet-Café als in ihren eigenen vier Wänden. „Wir haben ungefähr 50 Stammkunden, die jeden Tag mehr als fünf Stunden hier verbringen“, sagt Maamut Demir vom Internet-Treffpunkt in Kreuzberg.

Die offiziellen Zahlen sind nur ein winziger Teil aller Süchtigen, meint Werner Platz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom Vivantes Humboldt-Klinikum. „Die wenigsten Abhängigen sind sich, wie bei allen Formen von Sucht, ihrer Situation bewusst und zum Handeln bereit.“

Das starke Verlangen, das „Immer-mehr-Wollen“ ist für den Suchtspezialisten bei seinen Patienten ein erstes Symptom für eine bestehende Sucht. Die psychische Bindung an das Medium ist ein schleichender Prozess. Bei der Internetsucht unterscheiden Experten zwischen drei Stadien: Das erste umfasst weniger als fünf Stunden Online-Zeit am Tag, gefolgt von fünf Stunden und mehr. Chronisch süchtig bezeichnet man alle, die über sechs Monate lang jeden Tag fünf Stunden vernetzt sind.

Der Kontrollverlust

„Ich bleibe immer wieder länger online, als ich es mir vorgenommen habe.“ Die Testfrage trifft bei Sabine zu. „Klar, man will ja den Kontakt nicht verlieren.“ Sabine merkt gar nicht, wie schnell die Stunden vergehen, wenn sie online ist.

Wenn die starke Bindekraft sich verselbstständigt, verlieren die Süchtigen die Kontrolle über ihren Internetgebrauch. Zur besonderen Risikogruppe erklärt die im Jahr 2000 durchgeführte Studie des Forschungslabors am Lehrstuhls Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie der Humboldt-Universität die jugendlichen Netz-User. Neben der schnellen Zugänglichkeit zu dem Medium diene das Internet den 17- bis 25-Jährigen oft „als Instrument, das sie bei ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung unterstützt“. Es biete ihnen Anerkennung – wenn auch nur virtuell.

Die Lüge

Sabine kommt zwar nicht in die Verlegenheit, ihre Freunde anlügen zu müssen, kapselt sich aber immer mehr ab. „Es ist mir irgendwie ein wenig peinlich, und ich kann es auch Leuten, beispielsweise in der WG, teilweise nicht erklären, warum ich dafür so viel Aufmerksamkeit locker machen kann.“

Aufkommende Schuldgefühle seien nicht selten, bewertet Werner Platz diese Reaktion. Sabine erkennt, dass sie versucht, sich und den anderen weiszumachen, dass sie die Internetgeschichten nur so nebenbei mitnehme. Mit dem Runterspielen und Bagatellisieren der eigenen Online-Gewohnheiten wird deutlich, dass bei den meisten Fällen ganz andere Gründe hinter der Internetsucht stecken. Der Online-Experte Platz nennt Probleme im privaten Bereich oder auf der Arbeit und Ängste vor Auseinandersetzungen als Hauptgrund für die Flucht in die virtuelle Welt. Für Kontaktgestörte ist das Internet eine Möglichkeit, leicht und unverbindlich Menschen kennen zu lernen. Viele umgehen ihre Unzufriedenheiten mit einer neuen, heldenhaften Identität in einer der unzähligen virtuellen Zauberwelten.

Die Sucht

Sabine merkt, dass sie immer, wenn sie längere Zeit nicht zu Hause ist, unruhig wird. Sie fragt Freunde, ob sie nur mal kurz ihre Mails abrufen kann. „Ich hab sogar mal in der Disko, in der ich damals nachts gearbeitet habe, den DJ überredet, mich an den Diskorechner zu lassen, damit ich einem Chat-Date absagen konnte, weil’s später wurde.“ Durch eine vegetative Umstellung, erklärt der Berliner Online-Therapeut, kommt es zu Entzugserscheinungen. Unruhe und Gereiztheit, aber auch Schweißausbrüche und Herzrasen werden durch die Erwartungshaltung, in der sich der Abhängige befindet, ausgelöst. Sabine gibt zu: „Manchmal merke ich das sogar körperlich und fand es auch schon ziemlich anstrengend, aber das hält mich nicht davon ab, es immer wieder zu tun.“

Die Lösung

„Das Internet ist für mich ein Weg, um vor Problemen zu fliehen oder schlechtes Befinden zu bessern.“ Die Frage stimmt Sabine nachdenklich. Sie ist nicht zufrieden mit ihrer Situation und sich selbst. Das Studium, die Stadt, die WG – überall kriselt es. „Ich war schon im Begriff, alles hinzuschmeißen und wegzugehen. Vor dem Computer habe ich meine Ruhe und kann gleichzeitig den ganzen Frust ablassen.“ Wiederholungszwang und Missstände in der Umgebung machen die Suchtsituation zu einer Sackgasse. Deshalb ist die Therapie, die Werner Platz seinen Patienten anbietet, von zwei Säulen getragen: Säule eins ist der verhaltenstherapeutische Ansatz. Der Patient muss eine Vereinbarung treffen, seine Web-Stunden in der Woche bis zum nächsten Termin zu reduzieren. Keine Abstinenz, sondern der Umgang mit dem Internetzugang wird versucht. Die zweite Säule ist dann die eigentliche Therapie, die sich an das Problemfeld, das sich hinter der Internetsucht verbirgt, rantastet. Eine bestehende Gefahr während der Behandlung ist der Umstieg vom Internet auf andere Drogen. „Die sind alle austauschbar, solange sie eine Flucht aus der Realität und eine Ablenkung vor der Konfrontation ermöglichen.“

Prognosen für eine Heilung sehen generell gut aus, so Platz. „Die sind alle noch nicht lange dabei.“ In Zukunft sei vor allem eine verstärkte Thematisierung der Gefährdung, die vom Internet ausgeht, wichtig.