„Die räuberische Bourgeoisie plünderte uns“

Nach der Militärdiktatur galt Argentinien lange Zeit als boomendes Wirtschaftsland. Ein Gespräch mit dem argentinischen Publizisten Horacio Verbitsky über den letzten Bankencrash und die Schuldenkrise des Landes als Endpunkt eines Prozesses aus Kapitalflucht und unaufgearbeiteter Geschichte

Interview ANDREAS FANIZADEH
und EVA-CHRISTINA MEIER

taz: Herr Verbitsky, wenn Sie sich die Schuldenkrise Argentiniens vor dem Hintergrund der Politik seit der Militärdiktatur in den Siebzigerjahren anschauen, welche Dinge haben sich geändert und welche Konstanten lassen sich feststellen?

Horacio Verbitsky: In den Siebzigerjahren subventionierte die Militärregierung die Exportwirtschaft, während diese die über die Auslandskredite gewonnenen Mittel für Finanzspekulationen einsetzte. Gegen Ende der Diktatur wurden die Schulden großer Unternehmen sozialisiert. Nach deren privat erzielten Gewinnen fragte man nicht. Auf die Spitze getrieben wurde dieses Spiel der Umverteilung unter der Präsidentschaft Carlos Menems in den Neunzigerjahren. Zusammen mit seinem Wirtschaftsminister Domingo Cavallo führte er Anfang der Neunziger die bis 2002 gültige Konvertibilität, die 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar, ein. Da der Peso im Verhältnis zum US-Dollar von Anfang an stark überbewertet war, bildete dies, zusammen mit den laufend neu aufgenommenen Schulden, den strukturellen Hintergrund für die Kapitalflucht und den jetzigen Staatsbankrott. Die Analyse der nationalen Kontenbewegungen und Geldflüsse macht sehr deutlich: Verschuldung und Wechselkurs begünstigten die Kapitalflucht.

Würde man die politisch Verantwortlichen für diesen Prozess in eine Rangfolge bringen, dann wäre an erster Stelle Domingo Cavallo zu nennen. Unter den Militärs war er Präsident der Nationalbank, später Wirtschaftsminister unter Menem und im Kabinett von Fernando de la Rúa (Präsident des Mitte-links-Bündnis ab Oktober 1999, d. Red.). In den letzten fünfundzwanzig Jahren verkörperte er die Kontinuität in der argentinischen Politik.

Und was hat sich verändert? Immerhin gab es einen Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie.

Geändert haben sich die Mechanismen der Wertabschöpfung. Im einen Fall werden die Schulden privat gemacht und später sozialisiert, also vom Staat übernommen. Im anderen Fall setzt der Staat seine Devisenreserven ein, um den transnational operierenden Gruppen den 1:1-Wechselkurs von Peso und Dollar zu garantieren, obwohl diese mit den gewonnenen Devisen sogleich ins Ausland flüchten. In den Siebzigerjahren waren die Kreditgeber vor allem ausländische Banken, heute sind es eher die internationalen Finanzmärkte, die die Bonds oder die vom Staat oder von Unternehmen ausgegebenen Wertpapiere akzeptieren. Die Veränderungen sind aber eher funktionaler Natur. Betrachtet man die großen makroökonomischen Abläufe, so stellt man fest, dass es wenig Veränderung gab und die Kontinuität überwiegt.

Wohin ist das argentinische Kapital geflossen?

Ein großer Teil ist über Finanzgeschäfte in den Vereinigten Staaten, der Karibik, der Schweiz oder anderen europäischen Staaten gelandet. Weitere Anlagequellen sind große Fonds mit Immobilien wie im US-amerikanischen Miami oder im uruguayischen Punta del Este. Es gibt auch einige Investitionen in anderen lateinamerikanischen Staaten. Meiner Meinung nach war es ein großer Fehler der Regierung Alfonsín (er war 1983 erster Präsident nach der Diktatur, d. Red.) zu glauben, sie hätte es im Übergang zur Demokratie mit sozialen Akteuren zu tun, die ein wirklich ernsthaftes Interesse an dem Land haben. Stattdessen waren es die Vertreter einer räuberischen Bourgeoisie, die die Nation auch nach der Diktatur ausplünderten. Ein weiterer Fehler Alfonsíns bestand darin, dass er mit den Banken das Thema der Auslandsverschuldung nicht härter verhandelte, zu einem Zeitpunkt, als dies noch möglich gewesen wäre. Später, als die Anzahl der Gläubiger nicht mehr zu überblicken war, gab es diese Möglichkeit nicht mehr. Aber Anfang der Achtziger hätte eine Drohung Argentiniens mit Zahlungsunfähigkeit die Gläubigerbanken und damit das US-amerikanische Finanzsystem noch in arge Verlegenheit gebracht.

Können Sie die Höhe der Summe der argentinischen Auslandsschuld im Jahr 2003 abschätzen?

Sie beträgt im Moment ungefähr 150 Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig schätzen Finanzexperten, dass 135 bis 140 Milliarden US-Dollar von Argentiniern in Depositen und Wertanlagen außerhalb des Landes liegen. Das heißt: Auf jeden staatlichen Schuldendollar kommt fast ein US-Dollar Fluchtkapital. So funktionieren die Abläufe in dieser Ökonomie.

Wie kann man sich die politisch-ökonomische Entwicklung in der Regierungszeit Menems genauer vorstellen? Waren es die in- oder die ausländischen Gruppen, die von seiner Politik stärker profitierten?

Grundsätzlich profitierten alle, die an der Privatisierung beteiligt waren. Während man dem produktiven Sektor zusetzte, verzeichneten die an der Privatisierung beteiligten Unternehmen sprunghaft ansteigende Gewinne. Sie machten antizyklisch Gewinne, während die übrige Wirtschaft abbaute. Die Gewinner waren die direkten Anbieter öffentlicher Dienstleistungen wie Strom, Wasser, Transport, Telefon. Sie bildeten einen eigenen Sektor, sozusagen das Sahnehäubchen der Ökonomie. Sie sind die großen Gewinner, und zu ihnen gehören lokale wie transnational operierende Wirtschaftsgruppen ebenso wie die Finanzunternehmen und die Gläubigerbanken. Die Privatisierung unter Menem ist nur noch vergleichbar mit dem brutalen und korrupten Vorgehen in der früheren Sowjetunion. Über die Privatisierung erreichte Menem, dass die Interessen der großen Wirtschaftsgruppen eine Zeit lang harmonisierten. Sie hatten eine Beute zum Teilen.

Aber am Ende seiner zweiten Amtszeit geriet Menems Modell bereits ins Straucheln.

Genau, der Prozess von Privatisierung und Verschuldung brachte einen neuen Typ von Unternehmen hervor. Unternehmen, die von internationalen, im argentinischen Fall oftmals nordamerikanischen Gläubigerbanken geleitet werden. Lokale Unternehmen und internationale Dienstleister arbeiten zusammen und sind so in der Lage, jeden Service zu leisten. Jeder hat seine Aufgabe, und die lokalen Unternehmensgruppen schmieren die Politiker und kümmern sich um die Konzessionen. Die ausländischen Gläubiger beeinflussen den Wert der Schuldentitel über die Aktienkurse der jeweiligen Unternehmen. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre geriet dieses Modell zunehmend in die Krise. Die lokalen Wirtschaftsgruppen verkauften ihre Anteile an den privatisierten Unternehmen. Sie transferierten das Kapital ins Ausland oder investierten im Inland in Immobilien und in den exportorientierten Teil der Agrarindustrie. Sie waren von daher an der Abwertung des Peso interessiert. Auf der anderen Seite stehen die ausländischen Unternehmen – nordamerikanische, spanische, italienische, französische und deutsche – mit ihren Beteiligungen an den privatisierten Unternehmen des öffentlichen Dienstes. Sie waren weiterhin an der Dollarisierung der Wirtschaft interessiert, um die Abwertung ihrer Aktien zu verhindern. Das war der Streit, der die letzten zwei Jahre der Präsidentschaft Menems dominierte und zuletzt mit dem Rücktritt der Regierung de la Rúa zugunsten der Abwertungsbefürworter entschieden wurde.

Die Abwertung hat aber vor allem auch die mittelständische Bevölkerung stark getroffen und viele um ihre Ersparnisse gebracht.

Die Situation in Argentinien ist hinsichtlich des plötzlichen Wertverlustes der privaten Guthaben, des Einbruchs der Löhne und der Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten nur mit den schlimmsten Jahren der Weimarer Republik vergleichbar. Oder mit Ländern, die sich im Krieg befinden.

Was müsste eine argentinische Regierung als Erstes tun?

Die jetzige Abwertung des Peso ist genauso falsch wie zuvor die Dollarisierung der Wirtschaft. Eine Änderung der Situation kann nur über tief greifende Reformen und eine Neuverteilung der Einkünfte erreicht werden. Das Volk muss die Kontrolle über die Politik und die Politik die Kontrolle über die Ökonomie zurückgewinnen.

Wie beurteilen Sie die Veränderungen beim großen Nachbarn Brasilien?

Vielleicht kann der Triumph der brasilianischen Arbeiterpartei PT die ganze Region aus der Agonie reißen. Argentinien verbreitet manchmal den Eindruck völliger Antriebslosigkeit. Lula und die PT könnten den Anstoß geben, dass auch in Argentinien die Motoren wieder anspringen. Immerhin haben die Mitgliedsstaaten des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay) zusammen mit Chile und Bolivien jetzt beschlossen, dass sich die Bürger dieser Staaten frei bewegen und niederlassen dürfen. Das ist ein kleiner, aber ermutigender Schritt. Allerdings wird es nicht einfach werden, in naher Zukunft die Kontrolle über die Einkünfte und die nationalen Reichtümer zurückzuerlangen. Während der argentinischen Diktatur verschwanden in dieser Auseinandersetzung über 30.000 Menschen. Man darf nicht vergessen, zu welchen Massakern die Eliten in Verteidigung ihrer Pfründen vor kurzem noch bereit waren.

Wie stark war das historische Bewusstsein bei den Mobilisierungen 2001/2002, die zum Sturz de la Rúas führten?

Der Zusammenhang zwischen den politischen und ökonomischen Abläufen des letzten Vierteljahrhunderts und dem Staatsbankrott schien mir bei vielen Versammlungen ein deutliches Element. Aber auch bei politischen Themen gibt es ein ständiges Auf und Ab. In manchen Augenblicken scheint das Thema vergessen und auf einmal ist es wieder da. Das soziale Bewusstsein kennt keinen linearen Prozess. Auch in Deutschland gab es nach dem Faschismus, nach den Nürnberger Prozessen ein langes, erdrückendes Schweigen. Es dauerte zwanzig Jahre, bis eine neue Generation heranwuchs, und auf einmal hieß es empört: „Die Mörder sind unter uns.“ Die Gräber begannen sich zu öffnen.

Welche Bedeutung messen Sie den aktuellen Klagen gegen Ford und Mercedes bei, in deren argentinischen Werken während der Diktatur viele oppositionelle Arbeiter verschwanden?

Man muss diejenigen strafrechtlich belangen, die entführten, folterten und mordeten. Das ist keine Angelegenheit, die sich nach Gutdünken behandeln lässt. Die individuell Verantwortlichen sind zu benennen. Man muss ermitteln, was konkret geschah. Es gab eine Komplizenschaft zwischen vielen Konzernen und der Diktatur. Im Fall von Ford lässt sich belegen, dass die Militärs zur Festnahme aktiver Gewerkschafter mit Fotos und Unterlagen aus dem Personalbüro des Unternehmens gefüttert wurden.