: Sieg für Arbeiter, Bürger und Künstler
Auf 30.000 Menschen wird die Zahl derer geschätzt, die während des Regimes in Argentinien gewaltsam umkamen: Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin stellt mit „Alltag und Vergessen – Argentinien 1976/2003“ ein lebendiges Archiv der bitteren Geschichte und Gegenwart des Landes aus
von HARALD FRICKE
Der feine Akzent ist immer noch gut hörbar. Sehr norddeutsch. Dabei wurde Eleonora Ana Augusta Lüdden 1914 in Patagonien geboren, ihre Eltern waren in den Zehnerjahren nach Argentinien ausgewandert. Heute lebt Lüdden in Buenos Aires und ist eine Zeitzeugin der Diktatur.
Mitte der Siebzigerjahre gehörte sie zur Gruppe der Mütter vom Plaza de Mayo, die vor dem Sitz des argentinischen Präsidenten demonstrierten. Damals war Lüddens Sohn Federico am 30. 11. 1976 verschwunden, vermutlich hatten ihn Militärs verschleppt. Bis heute weiß die fast Neunzigjährige nicht, was genau geschehen ist – Federicos Leichnam wurde nie gefunden.
Die Geschichte der Familie Lüddens gleicht den Erinnerungen von Bettina Ehrenhaus, Ellen Marx, Lotte Thanhäuser oder Luisa Wettengel, die ebenfalls für die Ausstellung „Alltag und Vergessen – Argentinien 1976 / 2003“ in der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst befragt wurden. Auf 30.000 Menschen wird die Zahl derer geschätzt, die während des Regimes in Argentinien gewaltsam umkamen.
Das allumfassende System des Terrors lässt sich kaum in einem Bild fassen, erst recht nicht künstlerisch. Deshalb hat Veronike Hinsberg für die Gespräche mit Hinterbliebenen eine andere Form der Installation gewählt. In einer Kabine aus Holz und Glas kann man auf vier Kopfhörern Auszüge aus insgesamt einem halben Dutzend Interviews hören. Gleichzeitig steht die Box als räumlicher Mittelpunkt der Gemeinschaftsausstellung von neun deutschen und argentinischen Künstlern: oral history im Ohr und Fotografien, Dokumaterial und Malerei vor den Augen. Als linkssozialisierter Poprealist hat Daniel Richter ein Historiengemälde zur Fußball-WM 1978 skizziert. In den hellblauen Trikotfarben der argentinischen Mannschaft zeigt er die Ambivalenz zwischen sportlichem Massen-Event und den politischen Gegebenheiten. Weiter vorne im Eingangsbereich gibt es großformatige Prints zum Gedenken an den Zeichner Héctor G. Oesterheld, dessen Comicserie „El Eternauta“ schon in den Fünfzigerjahren ein apokalpytisches Szenario des totalitären Staates war, bevor die Geheimpolizei ihn schließlich abholen ließ.
Von Alicia Herrero wiederum stammt ein rasant geschnittenes Video über Arbeiterinnen in einer Textilfabrik, das sie mit einem Environment aus Rednerpulten und Mikrofonen koppelt. Nebenan hat Eva-Christina Meier in diversen Fallstudien die Lebenssituation der mittlerweile erwachsenen Kinder von verschleppten Regimegegnern fotografisch begleitet. Manche wohnen heute in modernen Hochhausblöcken, in direkter Nachbarschaft mit ehemaligen Angehörigen des Militärs. Offenbar haben sich mit der Zeit selbst die Spannungen zwischen Opfern und Tätern abgeschliffen, sind die unaufgelösten Konflikte zur Normalität geworden.
In solchen Überschneidungen ist „Alltag und Vergessen“ mehr als nur ein mit Leben gefülltes Archiv zur bitteren Geschichte und Gegenwart Argentiniens. Es geht auch um die Frage, warum die gesellschaftlichen Utopien nach dem Ende des Militärregimes so prompt verloren gegangen sind. Zunächst schien der Nullpunkt für alle gleich: Die freien Wahlen 1983 waren ein Sieg für Arbeiter, Bürger, Oppositionelle und Künstler – gegen die Diktatur.
Doch im Zuge der Neoliberalisierung des Landes war schnell klar, dass die neuen und alten Eliten sich kaum unterscheiden würden. Mehr noch, die Verhältnisse sind trotz der Demokratisierung konstant geblieben und haben den ökonomischen Kollaps im Winter 2002 erst gefördert. So wurde die Kapitalflucht in den Neunzigerjahren durch Machtstrukturen begünstigt, die bereits unter den Militärs aufgebaut worden waren, wie der Publizist Horacio Verbitsky im Interview feststellt (s. taz, 15. 3.). Dieses schwer zu entzerrende Nebeneinander spiegelt sich auch in den nüchternen Architekturaufnahmen von Alberto Goldenstein. Mal fügt sich ein hypermodernes Prunkgebäude des Chrysler-Unternehmens in die Skyline von Buenos Aires, mal sieht ein verlassenes Gefängnis aus wie Plattenbautenruinen in Ostberlin.
Widersprüche machen nicht nur die Topografie von Buenos Aires aus. Sie sind auch den Strategien der dort lebenden Künstler eingeschrieben. Bei Eduardo Molinari etwa verdichten sich die Gegensätze zu einem exzentrischen, zumindest sehr subjektiven Bildatlas, der in kleinformatigen Fotografien und Zeitungsausschnitten über die Wände wuchert. Molinari schafft absurde Analogien, in denen Evita Peron und Nina Hagen zu Wahlverwandten werden oder aztekische Menschenfresserrituale neben Kakteenschnappschüssen auftauchen. In einem Land, in dem der Stellenwert offizieller Dokumente so fragwürdig geworden ist, dass sie als Material kaum noch zur Aufarbeitung von Geschichte taugen, greift Molinari provokativ auf private Mythen zurück. Sie sind für ihn „Stellvertreter von Gegeninformation“, sie garantieren, dass sich nicht wieder eine neue Ordnung zwischen Alltag und Vergessen schiebt.
Bis 20. 4., NGBK, Berlin; Katalog: 8 Euro