Erbarmen mit Amerika

DAS SCHLAGLOCH    von KLAUS KREIMEIER

Die atlantische Idee ist älter als der Kalte Krieg, und stets war sie mehr als ein Zweckbündnis

Atavismus: entwicklungsgeschichtlich als überholt geltendes, unvermittelt wieder auftretendes körperliches oder geistig-seelisches Merkmal (Duden, Fremdwörterbuch)

Es ist wahr – das modernste, wirtschaftlich und militärisch stärkste Land der Welt stürzt, unter seiner jetzigen Regierung, in eine vorpolitische Steinzeit ab. Die USA malträtieren das Völkerrecht, missachten internationale Einrichtungen und Konventionen, verhöhnen die Menschenrechte und drangsalieren den demokratischen Widerspruch im eigenen Land. All dies lässt einen Rückfall in Strukturen befürchten, an deren Überwindung die aufgeklärte Menschheit seit zweihundert Jahren mit vielen Verlusten gearbeitet hat. Die amerikanischen Verhältnisse heute: ein waffenstarrender, mit fundamentalistischen Heilsversprechungen aufgeblähter, elektronisch hochgerüsteter Atavismus. Egal, wie schnell Rumsfelds konkurrenzlose Militärmaschine die hilflose Armee Saddams vernichtet und den Tyrannen beseitigt: Ein Kulturbruch zeichnet sich ab, der den weltweiten Demokratiebestrebungen schweren Schaden zufügen wird. Hegemonialwahn, Waffen und obskurer Moralismus bilden eine Gemengelage, die auch in anderen Teilen der Welt den Abschied von der Politik begünstigen und Usurpatoren jeglicher Couleur das Feld überlassen könnte. Das „amerikanische Jahrhundert“, wäre es denn mehr als ein Hirngespinst enthemmter Strategen, könnte grausig werden – und die „Pax Americana“ ein permanenter Kriegszustand.

Amerika unternimmt unter seiner gegenwärtigen Regierung alles, um die eingefleischten Amerikafeinde in aller Welt mit ihren Vorurteilen und temporären Aufwallungen ins Recht zu setzen. Aber Hass und Verachtung sind die denkbar schlechtesten Ratgeber. Ein Koloss, dem nur der Abscheu der Welt entgegenschlägt, wird nicht etwa sanftmütig und gefügig, vielmehr rabiat und möglicherweise unberechenbar – eben diese atavistischen Reaktionsweisen kennzeichnen ja die Regression in eine vorpolitische Mentalität. Sie haben sehr reale Wurzeln: Der Koloss steht zwar (noch) nicht auf tönernen Füßen, aber offensichtlich ist er angeknackst.

Gerade die imperialistische Aggressivität, die er nach außen an den Tag legt, weist zurück auf eine labile, teilweise desolate Lage im Innern – wirtschaftlich, psychologisch und sozial. Die Haushaltsmisere der USA, das Handelsdefizit, die Dollarschwäche – so die New York Times gestern – werden sich dramatisch verschärfen, wenn sich die Handelspartner mittel- oder längerfristig auf das Risiko „asymmetrischer“ Kriege mit ihren unberechenbaren Folgen einstellen müssen. Außenpolitisch hat Bush einen Scherbenhaufen angerichtet. Die gescheiterten Bemühungen, den Angriff auf den Irak vor der Weltöffentlichkeit zu legitimieren, belegen die Inkonsistenz seines imperialistischen Konzepts.

Die erbärmlichen Konstruktionen, mit denen seine Propagandagehilfen die Weltgemeinschaft überzeugen wollen, offenbaren handwerkliche, aber auch schwere strategische Fehler. Die Bereitschaft der USA, internationales Recht (im Fall Guantánamo sogar die Genfer Konvention) aufzukündigen und die Vereinten Nationen zu ruinieren, demonstriert ein Abenteurertum, dem die Zielperspektive, letztlich die Orientierung in der Welt abhanden gekommen ist. Der Zynismus, mit dem im Zeichen von „security“ und „patriotism“ der Überwachungsstaat aus der McCarthy-Ära aus der Mottenkiste geholt und wiederbelebt wird, zeugt nicht von Souveränität, sondern von tiefer Unsicherheit der Mächtigen im Umgang mit der Macht.

Wenn auf der einen Seite des Atlantiks das politische Denken ad acta gelegt wird, so ist es auf der anderen Seite umso mehr gefordert. Chirac und – eher unfreiwillig – Schröder haben ein tektonisches Beben ausgelöst, das so notwendig wie unvermeidlich war. Aber die Europäer wären gut beraten, umso beharrlicher am Konzept der transatlantischen Gemeinschaft festzuhalten, je rücksichtsloser Rumsfeld, Wolfowitz oder Perle auf ihm herumtrampeln. Sie werden sich darauf vorbereiten müssen, den ökonomisch geschwächten und moralisch ramponierten großen Bruder wieder aufzurichten – wenn Bush abgetreten und seine Berserker-Riege von der Bildfläche verschwunden sein werden.

Die atlantische Idee ist älter als der Kalte Krieg, älter auch als der Krieg der westlichen Demokratien gegen Hitler, und stets war sie mehr als ein politisch-militärisches Zweckbündnis. Sie wurzelt letztlich in einer gemeinsamen Kultur – was vielleicht nicht viel besagen würde, wäre es nicht eben jener kulturelle Humus, der einst das Projekt der Demokratie und des politisch mündigen Subjekts hervorgebracht hat. Eine Vision, an die sich sogar Donald Rumsfeld noch erinnerte, als er von „Old Europe“ sprach. So wie der Prozess, in dem sich die Vereinigten Staaten zur Weltmacht entwickelt haben, ohne die kulturellen Grundlagen und „Kulturschübe“ aus Europa undenkbar gewesen wäre, so wäre das moderne Europa kaum vorstellbar ohne den „Input“ aus amerikanischer Lebensweise, Technik, Kultur und Wissenschaft. Auch das Spiel mit der Katastrophe, das titanische Muskelspiel und die latente Veranlagung zum Kulturbruch sind ein gemeinsames historisches Erbe.

Bushs erbärmliche Konstruktionen, mit denen er die Welt überzeugen wollte, zeigen schwere Fehler

Die neuesten geostrategischen Konzepte, die eine zukünftige Achse Paris–Berlin–Moskau konstruieren und sie am liebsten bis nach Peking verlängern wollen, schlagen dieses Erbe leichtfertig in den Wind. Ohnehin werden gegenwärtig zu viele Achsen auf die Weltkarte geschmiert. Plötzlich wird wieder die unaufhaltsame „Demokratisierung“ Russlands gefeiert – als gäbe es die russischen Barbareien in Tschetschenien nicht. Europa hat alle Ursache, mit Russen und Chinesen in Frieden zu leben, aber es wäre auf dem Holzweg, würde es von einer euroasiatischen Gegenmacht zum US-amerikanischen Imperium träumen. Die globalen Wirtschaftskriege und die Schlacht um die dahinschmelzenden Energieressourcen wären absehbar – und vermutlich von einer heute kaum vorstellbaren Grausamkeit. So notwendig Europas Abschied von seiner Vasallenrolle gegenüber den USA derzeit ist und weiterhin sein wird, so aberwitzig wäre es, unter neuen Vorzeichen zum alten Blockdenken zurückzukehren.

Der Hightech-gestützte Atavismus des Präsidenten, die Selbstsuggestionen seiner militärischen Planer und die groben Fälschungen seiner politischen Helfershelfer – all das scheint ein wirrer Traum, und es ist längst ein Albtraum für amerikanische Patrioten. Dass heute Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker und Hollywoodstars vor aller Welt bekunden, sie schämten sich, Bürger der Vereinigten Staaten zu sein, stellt der Weltmacht ein verheerendes Zeugnis aus und ist kaum ein Indiz für ihren Aufstieg, eher für ihren Niedergang. Indes: Zur Schadenfreude besteht in Europa kein Anlass; auch die Amerikafeinde sollten nicht frohlocken. Dafür ist jeglicher Atavismus zu gefährlich – und die Lage zu brisant. Fantasie ist gefragt, perspektivisches Denken, „atlantische Ethik“, Courage zur eigenständigen Position – und zunächst und vor allem, mit Blick auf die erbärmliche Situation auf der anderen Seite des Atlantiks: Erbarmen mit Amerika.

Fotohinweis: Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler in Siegen