: Abgestumpft, aber nicht sorgenfrei
In Südkorea sehen viele Menschen den Atomstreit mit Nordkorea und dessen Provokationen erstaunlich gelassen,dennoch wachsen die Sorgen, dass die US-Regierung sich nach dem Irak das Regime in Pjöngjang vorknöpfen könnte
aus Seoul GUNHILD STIERAND
Südkorea hat seit Beginn des Irakkriegs seine Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Das soll verhindern, dass Nordkorea die Ablenkung der internationalen Gemeinschaft für Provokationen nutzt. „Die Kriegsgefahr ist groß,“ meint die 25-jährige Ingenieurin Choi-Jae-jin aus Seoul. Doch nicht alle Südkoreaner fürchten, dass Pjöngjang jetzt den Konflikt um sein Atomprogramm weiter anheizt. „Die Situation in Korea wird durch den Irakkrieg nur insofern kritischer, weil sich die Amerikaner danach womöglich Nordkorea vorknüpfen“, meint etwa die Medienwissenschaftlerin Sung Suk-hee (42). Dies fürchtet auch das Regime in Pjöngjang, das seinerseits seine Truppen in Alarmbereitschaft versetzte. Laut Parteiorgan Rodong Simun müsse ein Angriff der „US-Imperialisten“ befürchtet werden.
Südkoreas Hauptstadt mit über 11 Millionen Einwohnern ist nur 70 Kilometer von der Grenze zum Norden entfernt und liegt damit in Reichweite der nordkoreanischen Artillerie. Doch trotzdem ist die Stimmung überwiegend gelassen. „Es ist jetzt auch nicht gefährlicher als früher. Der Atomstreit ist kein Konflikt zwischen Nord- und Südkorea, sondern zwischen Nordkorea und den USA“, meint der 24-jährige Kellner Ko Chae-il. Viele Südkoreaner haben sogar mit der Vorstellung eines atomar bewaffneten Nordkoreas kein Problem. „Andere Länder, allen voran die USA, haben doch auch Atomwaffen“, meint Ko. Verkaufsleiterin Yeo Hye-yong (25) sagt: „Ich glaube nicht, dass die Nordkoreaner Atomwaffen entwickeln, weil sie einen Krieg planen. Für sie sind sie ein Druckmittel, um vom Ausland Geld und Lebensmittel zu erhalten.“
Auch der 32-jährige Produzent von Internetclips, Kim Ryu, hält die Kriegsgefahr momentan nicht für sehr groß: „Früher gab es schon kritischere Situationen. Nordkorea geht davon aus, dass die USA im Bedarfsfall uns ihre Atomwaffen zur Verfügung stellen würden. Deshalb will der Norden einen Ausgleich und demonstriert durch seine Raketentests, selbst auf einen US-Angriff vorbereitet zu sein.“
Verkaufsleiterin Yeo spekuliert sogar darauf, dass ein eines Tages vereintes Korea die Atomwaffen des Nordens behält: „Dann würde sich unser internationaler Einfluss vergrößern.“ In einem Teil der südkoreanischen Bevölkerung sind patriotische und amerikakritische Tendenzen unübersehbar. Beide Koreas eint die Angst vor dem Verlust der koreanischen Eigenständigkeit: Man sieht sich selbst als „yaksoguk“, als „schwaches kleines Land“, das u. a. während des Koreakrieges (1950–1953) zum „Spielball ausländischer Mächte“ wurde. Auch gegenüber Japan, das Korea von 1910–1945 kolonisierte, sind Ressentiments und Misstrauen vorhanden.
Das Nordkoreabild des 63-jährigen Pförtners Yang Cheol-ho (63) unterscheidet von dem vieler jüngerer Leute, die durch die Entspannungspolitik der letzten Jahre Nordkorea nicht mehr so sehr als Feind sehen. „Nordkorea darf auf keinen Fall Atomwaffen herstellen! Das könnte einen Flächenbrand in Ostasien auslösen. Ich halte Nordkorea für gefährlicher als Irak. Das Regime ist unberechenbar. Ein Krieg hätte die totale Zerstörung beider Koreas zur Folge.“
Der Politikwissenschaftler Heo Man-ho von der Kyungpook National Universität in Taegu erklärt die domininierende Gelassenheit mit Südkoreas Vergangenheit: „Da früher von der Militärdiktatur die Angst vor Nordkorea bewusst geschürt wurde, sind heute viele Leute abgestumpft.“ Einen atomaren Angriff auf den Süden hält auch er für „wenig wahrscheinlich“. Nordkoreas Atomwaffen könnten aber zumindest theoretisch, so Heo, gegen US-Basen in Hawaii oder Japan eingesetzt werden. Auch ein US-Präventivschlag sei „durchaus möglich“. Beides sei ein „nationales Desaster“: „Wenn Kim Jong-Il Gefahr läuft, seine Macht zu verlieren, wird er alle Mittel anwenden, um das zu verhindern. Wir sollten der Realität ins Auge schauen.“