: US-Desaster an der Nordfront
Ankaras zögerliche Haltung torpediert bislang die amerikanische Militärplanung in der Türkei. Die Situation im Nordirak ist weiter unübersichtlich
aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH
Während der Angriff der USA auf den Irak von Kuwait aus begonnen hat, droht die Nordfront für die US-Armee zu einem Desaster zu werden. Bislang ist die Planung für die Stationierung von US-Truppen im Nordirak durch das Nein des türkischen Parlaments, Territorium der Türkei für den Angriff auf den Nachbarn zu öffnen, Makulatur geblieben.
Das gilt nicht nur für Bodentruppen, auch die Flughäfen der Türkei sollen nach Auskunft von Ministerpräsident Tayyip Erdogan für die US-Luftwaffe geschlossen bleiben. Eine Ausnahme ist der Flughafen in Incirlik, von dem aus die US Air Force und die britische Luftwaffe bereits seit 1991 die nördliche Flugverbotszone im Irak kontrollieren.
Nach wochenlangem Tauziehen hat das türkische Parlament gestern immerhin einem Antrag der Regierung zugestimmt, den Luftraum des Landes für US-Militärflugzeuge zu öffnen. Damit können die USA ihre Kampfflugzeuge, die auf Flugzeugträgern im Mittelmeer stationiert sind, einsetzen.
An dem amerikanischen Desaster im Norden ändert auch die Tatsache kaum etwas, dass Frachter, die das Pentagon gechartert hat, bereits seit Anfang März im türkischen Mittelmeerhafen Iskenderun entladen werden. Soweit per Augenschein erkennbar, handelt es sich dabei vor allem um Lkws, Zelte, Munition und medizinische Versorgung. Jedenfalls wurden bislang noch keine schweren Waffen wie Panzer oder gepanzerte Fahrzeuge, die für einen schnellen Vormarsch von der türkischen Grenze Richtung Bagdad nötig wären, gesichtet. Diese Ausrüstung wurde in gemieteten Lagern und auf mehreren Industriegeländen entlang der Grenze deponiert, wobei unklar ist, wann und wie die Ausrüstung in den Nordirak gebracht werden kann.
Trotzdem hat die Errichtung dieser Nachschubbasen zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt, weil das Parlament am 1. März die von der Regierung beantragte Erlaubnis für die Stationierung von 65.000 US-Soldaten abgelehnt hatte. Offiziell wurden das Material und die dazugehörigen US-Soldaten als Teil eines Deals deklariert, den das Parlament vor Wochen abgesegnet hatte und der den USA die Reparatur und technische Aufrüstung türkischer Häfen und Flughäfen erlaubt. Dennoch sagte Parlamentspräsident Bülent Arinc, ihm stünden die „Haare zu Berge“, wenn er die Bilder aus Iskenderun sehe. Die Opposition hat einen Untersuchungsausschuss beantragt.
Auf der anderen Seite hat die US-Regierung mit massivem Druck versucht, die türkische Haltung dahin zu ändern, dass wenigstens ein Teil ihrer Truppen einrücken darf.
Erschwerend für die USA kommt hinzu, dass auch die Lage im Nordirak unklar ist. Mit der Abstimmung über die Überflugrechte hat das türkische Parlament gestern auch die Entsendung türkischer Soldaten in den Nordirak beschlossen. Auch das läuft den US-Interessen extrem zuwider, da die irakischen Kurden seit Tagen deutlich machen, dass sie sich gegen einen Einmarsch türkischer Truppen wehren werden, die nicht unter US-Oberkommando stehen. Statt mit einer eigenen Nordfront von 60.000 US-Soldaten und gesicherten Nachschublinien durch die Türkei, sehen die USA sich im Nordirak in wenigen Tagen möglicherweise mit einem Kleinkrieg zweier widerspenstiger Verbündeter konfrontiert.
Noch warten die für die Nordfront vorgesehenen US-Truppen in ihrem Stützpunkt zu Hause, während die Kollision zwischen kurdischen Milizen und türkischen Truppen anläuft. Die beiden großen kurdischen Parteien KDP und PUK können auf ungefähr 60.000 Kämpfer zählen, die sie vor rund einer Woche auch einem einheitlichen Kommando unterstellt haben. Nach Angaben einzelner KDP-Kommandanten haben ihre Milizen längst angefangen, Stellungen entlang der Grenze zur Türkei auszuheben.
Auf der anderen Seite hat die türkische Armee bis zu hunderttausend Mann samt schwerem Gerät in der Grenzregion zusammen gezogen. Rund 5.000 türkische Soldaten sind im Nordirak stationiert, überwiegend auf der Basis Bamaryan nördlich von Erbil. Türkischen Medien zufolge existiert dort auch ein Rollfeld für Transportflugzeuge.
Offiziell sollen die türkischen Truppen dazu dienen, kurdische Flüchtlinge, die im Golfkrieg 1991 zu hunderttausenden über die Grenze kamen und den Bürgerkrieg in der Türkei anheizten, in Lagern auf irakischem Gebiet aufzuhalten. Gleichzeitig ist die Rede davon, die Türkei könne die mögliche Entstehung eines kurdischen Staates im Nordirak nicht tolerieren und deshalb auch den Griff der Kurden auf die Ölstadt Kirkuk nicht zulassen.
Zur Entspannung der Situation hat ein Vertreter der KDP erklärt, man werde zunächst akzeptieren, dass die Ölfelder von Kirkuk und Mossul von den USA kontrolliert werden, allerdings nur für einen kurzen Zeitraum. Nach den ersten Bomben hat sich die Antikriegsstimmung in der Türkei verfestigt. Präsident Ahmet Necdet Sezer verurteilte den Angriff, und Premier Erdogan kritisierte, dass er von US-Seite nicht informiert worden war.