: Außer Kontrolle
Am 1. April tritt das neue Jugendschutzgesetz in Kraft. Was bringt es? Und bringt es was?
von CATHARINA RETZKE
Als ich dreizehn war, wollte ich im Kino „Top Gun“ ansehen. Konspirativ geplant war der Ausflug nach Downtown München – ich würde Tom Cruise in diesen unglaublich schnellen Flugzeugen anschmachten können, unseren Müttern hatten wir irgendwas von einer Komödie gesagt. Hätte ich bloß meinem großen Bruder nichts davon verraten! Er erzählte nicht nur alles brühwarm unserer Mutter, nein, er (damals siebzehn) erklärte auch noch, dass „Top Gun“ erst ab sechzehn sei und ich da ja wohl ü-ber-haupt nichts verloren hätte. Es gab großes Geschrei, und ich durfte nicht mitgehen. Ein echtes frühpubertäres Trauma.
So hat die FSK-Altersbeschränkung hervorragend funktioniert, aber damals war das Leben, genauer: das Beschützen junger Menschen vor gefährlichen Bildern und Büchern ja auch noch einfacher. Kinofilme bekamen eine Altersfreigabe, im Fernsehen gab es Softpornos und Stallone erst nach elf, und schlimme Bücher und Videofilme wurden kurzerhand auf den Index gesetzt. Und heute?
Bereits ab 1995 versuchte eine Enquetekommission im Bundestag, den Jugend- und Kinderschutz in den Medien, der weder Internet noch Computerspiele berücksichtigte, neu zu regeln. Aber wie das in diesem Land öfter so ist, passiert erst etwas, wenn etwas passiert ist. Nachdem im April 2002 ein Neunzehnjähriger in Erfurt seine Schule heimgesucht hatte, ging plötzlich alles sehr schnell. Im Eiltempo wurde im Juli das neue Jugendschutzgesetz (JuSchG) verabschiedet, und im August einigten sich die Länder auf einen Jugendmedienschutzstaatsvertrag (JMStV). JuSchG und JMStV treten am 1. April 2003 in Kraft.
Das JuSchG regelt zweierlei: Jugendschutz in der Öffentlichkeit und Jugendschutz in den Medien. Ersteres umfasst vor allem ein allgemeines Abgabeverbot von Alkohol und Tabak an Jugendliche und Aufenthaltsverbote für Kinder und Jugendliche an gefährlichen Orten (Disko, Kneipe, Kino).
Beim Jugendmedienschutz geht es darum, die Kids vor Gewalt verherrlichenden und pornografischen Darstellungen in Büchern, Videos und neuerdings Computerspielen zu schützen. Nachdem der bisher verwendete Begriff „Schriften“ angesichts der fortentwickelten Medientechnik nicht mehr taugte, wurde der Begriff „Trägermedien“ eingeführt – der neben Druckschriften also auch Schallplatten, Video- und Audiokassetten sowie mobile Datenträger wie Disketten, CD-ROMs und DVDs umfasst.
Darüber, ob ein Trägermedium auf den Index und damit für Jugendliche tabu sein soll, entscheidet die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Bisher war die Indexliste frei abrufbar – und verkam insbesondere im Internet zu einem Wegweiser für jugendgefährdende Inhalte. Nun teilt sich die Liste in mehrere Bereiche auf, die Listenteile, die Internetangebote umfassen, werden nicht mehr öffentlich geführt. Folge einer Indizierung ist ein weitreichendes Werbe- und Vertriebsverbot, auch für den Versand- und Internethandel. Nur wenn ein so genanntes Altersverifikationssystem vorgeschaltet ist, das gewährleistet, dass kein Minderjähriger indizierte Ware bestellen kann, darf Schmuddelkram auch per Internet bestellt werden.
Der Jugendmedienschutzstaatsvertrag unterscheidet für Fernsehen und Internet unzulässige Angebote, die generell verboten sind (pornografisch, Krieg oder Gewalt verherrlichend), und die Entwicklung beeinträchtigende Angebote, bei denen die Fernseh- und Internetanbieter dafür sorgen müssen, dass sie von Jugendlichen nicht wahrgenommen werden – nämlich „Angebote, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen“. Ein weites Feld, hier hätten sich viele Jugendschützer eine klarere Definition gewünscht.
Wie aber kann sichergestellt werden, dass die Jugendlichen die entwicklungsbeeinträchtigenden Sendungen oder Internetseiten nicht wahrnehmen können? Im Fernsehen wird auch weiterhin mit Sendezeitbeschränkungen gearbeitet (Kriegsberichterstattung in Nachrichtensendungen fällt übrigens unter das „Berichterstatterprivileg“, ist also nicht eingeschränkt). Im Internet gestaltet sich die Sache schwieriger. Die Anbieter sind verpflichtet „anerkannte Jugendschutzprogramme“ vorzuschalten, die einen „nach Altersstufen differenzierten Zugang ermöglichen oder vergleichbar geeignet sind“. Solche Programme gibt es bislang jedoch nicht. Das einzige einigermaßen taugliche System ist das der International Content Rating Association (ICRA), die eine Filtersoftware anbietet, die auf einer Selbstklassifizierung der Anbieter beruht. Diese können die Inhalte ihrer Angebote mit 45 Merkmalen beschreiben, ICRA zertifiziert das Angebot, und die Nutzer bestimmen dann selbst, welche Inhalte sie sehen wollen.
Aber ICRA erfüllt die Anforderungen des JMStV bislang nicht. Zum einen ermöglicht das System keinen nach Altersstufen differenzierten Zugang. Zum anderen müsste es als Jugendschutzprogramm zunächst anerkannt werden, um als „vergleichbar geeignet“ zu gelten. Ob ICRA aber eine solche Anerkennung beantragen wird, ist noch offen.
Der JMStV unterscheidet überdies nicht zwischen reiner Zugangsvermittlung (Access Providing) und dem Anbieten von Inhalten (Content Providing). Access Provider können daher auch für jugendgefährdende Inhalte ihrer Unteranbieter zur Verantwortung gezogen werden. Dem Wunsch der Zugangsvermittler nach einer „abgestuften Verantwortlichkeit“, bei der eine Haftung nur für strafrechtlich relevante Inhalte wie Kinderpornografie, Gewalt- und Kriegsverherrlichung besteht und im Übrigen der Inhalteanbieter verantwortlich ist, wurde nicht entsprochen.
Die Überwachung der privaten TV-Sender und Internetanbieter in Fragen des Jugendmedienschutzes übernehmen in Zukunft vor allem „anerkannte Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle“. Denn grundsätzlich muss sich der Staat aus der Kontrolle der Medien heraushalten – Staatsferne ist die Devise. Kontrolliert werden die Selbstkontrolleure lediglich von der neu eingeführten „Kommission für Jugendschutz“ (KJM), einem bereits jetzt als „Expertengremium“ verunglimpften Zirkel, der in der Hauptsache aus Vertretern der Landesmedienanstalten besteht. Die KJM darf nur nachbessern, wenn die Selbstkontrolleinrichtung die „rechtlichen Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreitet“ – wenn sie offensichtlich falsch entscheidet.
Die Länder setzen auf so genannte regulierte Selbstregulierung: darauf, dass die Selbstkontrolleinrichtungen in Jugendschutzfragen zwar grundsätzlich das letzte Wort haben, aber nur entscheiden dürfen, wenn sie zuvor von den Landesmedienanstalten anerkannt worden sind. Die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e. V. (FSM), bislang einzige Selbstkontrolleinrichtung im Onlinebereich, hatte einen Antrag auf Anerkennung zunächst kategorisch abgelehnt. Kooperation: Ja. Kontrolle: Nein. Nun ist aus dem Nein ein vorsichtiges Vielleicht geworden. Man prüfe momentan, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um den Anforderungen des JMStV gerecht zu werden, so Sabine Frank von der FSM. Es lockt eben doch jede Menge Einfluss.
Für einen Laien kaum vermittelbar und im Übrigen verfassungsrechtlich bedenklich ist auch die Zweiteilung des Jugendmedienschutzes: Trägermedien für den Bund, Rundfunk und Internet für die Länder. Besonders in der Kritik: Anders als im Bundestag über das JuSchG berieten die Rundfunkreferenten der Länder über den JMStV hinter verschlossenen Türen, das Verfahren war ungefähr so transparent wie eine Papstwahl. Bund und Länder hatten sich jedoch auf diese Arbeitsteilung „geeinigt“, obwohl mehr als fraglich ist, ob die Länder die Gesetzgebungskompetenz für das globale Netz (!) überhaupt haben. Kuhhandel auf demokratisch – das ist ja das Geile am Föderalismus.
Eines ist jedenfalls mit den neuen Regelungen sicher: Es wird ein Vollzugsdefizit im Bereich Jugendmedienschutz im Internet geben. Doch es mussten endlich Vorschriften her – ob es derart detailverliebte technokratische Regeln hätten sein müssen, ist eine andere Frage. Mit JMStV und JuSchG ist der große Wurf im Jugendmedienschutz sicher nicht geschafft. Aber der Weg ist bereitet – und erst in der Praxis wird sich herausstellen, ob es funktioniert. April, April.
CATHARINA RETZKE, 28, ist Assessorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg