: „Der Markt wurde überschätzt“
INTERVIEW KATHARINA KOUFEN
taz: Herr Stiglitz, Sie kritisieren, dass die Chance verpasst wurde, die New Economy zu einem Boom für alle zu machen. Sie waren in den 90er-Jahren Wirtschaftsberater der US-Regierung. Warum haben Sie nicht selbst bessere Vorschläge gemacht?
Joseph E. Stiglitz: Das habe ich versucht. Ich habe schon ziemlich früh, Mitte der 90er-Jahre, gesagt, wir brauchen ein paar verbindliche wirtschaftspolitische Prinzipien, einige Richtlinien. Aber das US-Finanzministerium war dagegen.
Warum?
Man hatte Angst, die freien Kräfte des Marktes zu sehr zu beschränken.
Was ist damals schief gelaufen?
Eine ganze Menge. Vor allem haben wir die Balance zwischen Staat und Markt nicht hingekriegt. In einigen Bereichen hätten wir viel mehr regulieren sollen – stattdessen wurde dereguliert.
In welchen Bereichen?
Zum Beispiel in der Buchhaltung. Wir hätten höhere Standards einführen müssen. So haben wir zu viel Spielraum für Bilanzfälschungen gelassen. Auch hätten Zentralbank und Regierung rechtzeitig etwas unternehmen müssen, um Luft aus der anschwellenden Börsenblase herauszulassen. Ironischerweise hat die Regierung aber die Steuern für Spitzenverdiener gesenkt und für die schlechter Verdienenden erhöht. Damit wurde die Spekulation an den Börsen noch zusätzlich angeheizt – denn die, die Geld hatten, mussten jetzt ja noch weniger Steuern bezahlen.
Aber die Schere zwischen Arm und Reich ist wieder kleiner geworden.
Das stimmt für die USA nicht ganz, denn die Reichen verdienten überdurchschnittlich viel. Aber ich sage nicht, dass alles schief gelaufen ist. Auch die unteren Einkommen begannen zu steigen. Unter Bush ist dieser Trend übrigens wieder rückläufig – leider.
Bush hatte Pech: Als er ins Amt kam, war der Boom gerade zu Ende.
Ich mache Bush auch nicht dafür verantwortlich, dass die USA in eine Rezession gerutscht sind. Aber ich werfe ihm vor, die falschen Maßnahmen zu ergreifen. Er hätte zum Beispiel die Arbeitslosenunterstützung erhöhen und die Steuern für geringe und mittlere Einkommen senken sollen. Stattdessen senkte er die Steuern für die Reichen. Das hat nur eine minimale Konjunkturbelebung bewirkt. Und: Von einem Haushaltsüberschuss von mehr als 2 Prozent unter Clinton sind wir jetzt zu einem Defizit von 3, bald 5 Prozent gekommen.
Aber in Ihrem Buch beklagen Sie doch gerade, dass die Fixierung auf einen ausgeglichenen Haushalt einer der Fehler der 90er-Jahre war.
Man muss da eine Balance finden. Clinton hat sich zu sehr darauf konzentriert, das Loch im Haushalt zu stopfen, Bush tut das jetzt zu wenig. Wenn man es macht wie Clinton, opfert man Investitionen in Technologie, Infrastruktur und so weiter – Dinge eben, die zu Wirtschaftswachstum führen.
Sie schreiben außerdem, die USA hätten die Chance verpasst, die Globalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges auf einen guten Weg zu bringen. Wie meinen Sie das?
Wir – also die USA – haben unsere ganz speziellen Wirtschaftsinteressen oben auf die Agenda gestellt. Freier Welthandel ja – aber nur in den Bereichen, die wir wollen. Das weltweite Handelssystem sollte so aussehen, dass amerikanische Firmen davon profitierten und amerikanische Jobs nicht in Gefahr gerieten. Das Ergebnis: Eine Welthandelsorganisation, die für die ärmsten Länder unfaire Regeln aufstellt.
Wieso unfair? In der WTO gilt: Jedes Land hat eine Stimme. Die Entwicklungsländer sind in der Mehrzahl.
In der Praxis ist diese Regelung eine Legende. Ich habe Clinton manchmal damit aufgezogen: Wir sind für Freihandel – aber gegen Importe! Alle Länder sind prinzipiell für Freihandel, aber jedes Land fühlt sich sofort benachteiligt, wenn es um seine sensiblen Branchen geht. Manche setzen sich dann besser durch als andere.
Also weg mit der WTO?
Die WTO ist trotz allem ein erster Schritt hin zu einer Welthandelsordnung, in der das Recht gilt. Sie hat ein mächtiges Land wie die USA tatsächlich dazu gebracht, die hohen Stahlzölle zu senken.
Sie sagen, in den 90ern sei der Glaube an die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith zu groß gewesen. Die Überzeugung also, dass es das Beste für alle ist, wenn jeder nach seinem eigenen Wohl strebt. Wie konnte eine ganze Riege von Ökonomen so einen Unsinn glauben?
Was Adam Smith damals – im 18. Jahrhundert – meinte, war: Wenn ein Unternehmer nach Gewinn strebt, stellt er in der Regel neue, bessere, günstigere Produkte her, und das nützt allen. Auch heute hat privates Gewinnstreben manchmal positive Auswirkungen. Aber leider nicht immer: Die Vorstände großer Aktiengesellschaften wirtschafteten sich in den 90ern in ihrer Gier ausschließlich in die eigenen Taschen – auf Kosten der Angestellten und der Kleinaktionäre. Daraus müssen wir lernen: Wir dürfen dem Markt nicht zu sehr vertrauen.
Wie hätte man die Macht dieser Vorstände denn beschränken sollen?
Man hätte zum Beispiel diese Unsitte mit den Aktienoptionen nicht einführen dürfen. Damals dachte man, das bietet den Verantwortungsträgern einen Anreiz, die Leistung ihres Unternehmens so gut wie möglich zu steigern. In Wirklichkeit aber frisierten viele Vorstände nur die Bilanzen. Das Ergebnis sieht man jetzt in den ganzen Firmenpleiten. Ich sag nur: Enron, Worldcom.
Und nun schwenkt die ganze Horde von Wirtschaftsexperten um: Wieder mehr Staat, weniger Markt?
Viele dieser „Experten“ verfolgen in Wirklichkeit politische Ziele. Sie versuchten, im Sinne einer konservativen Politik zu handeln, die Macht der großen Unternehmen zu stärken und die der Regierung zu beschränken. Sie machten sich zu Handlangern der Oberschicht. Aber es hat auch viele Ökonomen gegeben, die tatsächlich die Macht und die Fähigkeiten des Marktes schlicht überschätzt haben.
Was soll künftig geschehen, damit „der Markt“ gerechter wird?
Wir befinden uns auf bestem Wege. Beispielsweise ist die derzeit laufende Handelsrunde von der WTO zur „Entwicklungsrunde“ erklärt worden. Die Anliegen der armen Länder sollen im Vordergrund stehen.
Papier ist geduldig.
Aber es gibt doch einen Fortschritt: Auf dem Welthandelstreffen im September in Cancún haben sich die Entwicklungsländer zusammengetan, um USA und EU daran zu hindern, wieder nur ihre Interessen durchzusetzen.
Die Frage ist nur, wie lange werden sie durchhalten.
Ich glaube, es gibt eine große Solidarität unter den Entwicklungsländern – auch wenn sie einzeln zum Teil sehr unterschiedliche Interessen haben. Bisher lief es doch immer so: Die Märkte für Dienstleistungen zum Beispiel sollten geöffnet werden. Und natürlich geht es da erst einmal um Finanzdienstleistungen – also Dienstleistungen, die die reichen Länder in die armen Länder exportieren. Von Dienstleistungen etwa im Bausektor, wo arme Länder endlich mal einen Vorteil hätten, ist dagegen kaum die Rede.
Haben Sie kein Mitleid mit den Bauarbeitern, die in den USA oder in Europa ihre Jobs verlieren würden? Oder mit den Stahlarbeitern, derentwegen die USA schließlich ihre Schutzzölle verhängt haben?
Natürlich. Aber ich habe auch Mitleid mit den Stahlarbeitern in Brasilien, die ihre Jobs verlieren, weil Brasilien kein Stahl in die USA exportieren darf. Und mit den Bauern in Entwicklungsländern, die ihren Hof aufgeben müssen, weil die subventionierten Importe aus den USA und der EU die Preise verderben. Das ist doch Wahnsinn: Eine Europäische Kuh wird jeden Tag mit zwei Dollar subventioniert – Millionen von Menschen leben von weniger als einem Dollar am Tag.
Sie waren auf dem Weltsozialforum in Bombay und auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Von beiden Treffen hörte man viel von „Armutsbekämpfung“ und „Gerechtigkeit“ – das klang ziemlich ähnlich. Wo war der Unterschied?
Die Art, wie darüber diskutiert wurde. Zum Beispiel ging es in Davos um „Sicherheit und Wohlstand“. Wohlstand hieß in Davos so viel wie „hohe Lebensstandards sichern“, in Bombay „Überleben“. In Davos war die Annahme, dass die Globalisierung – mit ein paar Ausnahmen – Wohlstand für alle bringt. Und dass die Länder, denen die Globalisierung bisher keinen Wohlstand gebracht hat, eben noch nicht genug globalisiert sind. In Bombay dagegen überwog die Überzeugung, dass die Globalisierung sehr viele Menschen außen vor gelassen hat.