: Wenn sprachliche Details unter die Räder geraten
Der Film „Spurwechsel“ beleuchtet die Arbeit von deutsch-russischen ÜbersetzerInnen. Heute Abend wird er im Literarischen Colloquium gezeigt
Zügen, die zwischen Deutschland und Russland verkehren, schraubt man an Grenzorten wie Brest-Litowsk breitere Achsen unter. Oder umgekehrt, wenn sie von Ost nach West fahren, schmalere. Eines vergleichbaren Aufwands bedarf es, wenn literarische Texte über Sprachgrenzen versetzt werden.
„Spurwechsel“ haben deshalb fünf ÜbersetzerInnen aus dem Russischen ins Deutsche ihren Film genannt, der die eigene Arbeit dokumentiert. Noch nie haben sich VertreterInnen dieser Zunft so sehr darum bemüht, ihre Arbeitsmühen und -freuden einem größeren Publikum vorzustellen. Das Pionierwerk, 90 Minuten lang, wird heute Abend im Literarischen Colloquium zu sehen sein.
Am Anfang stand die Idee: Wie wäre es, wenn wir jeweils ein deutsch-russisches ÜbersetzerInnenpärchen bildeten? Je zwei Leute, die in ihrer Arbeit auf das gleiche Lieblingsproblem gestoßen sind? Alles begann also für die deutschen AutorInnen des Films mit der Suche nach qualifizierten russischen KollegInnen, die sich mit literarischen Übersetzungen aus der deutschen Sprache befassen.
Zum Beispiel Marina Koreneva aus St. Petersburg, die sich in dem Film im Wechsel mit Dorothea Trottenberg aus Zürich über den „Hinterhof der Wörter“ äußert – über Flüche, „gefallene“ Moralbegriffe und „geadelte“ Sexualsprache. Thomas Reschke aus Berlin und Solomon Apt aus Moskau reden über ironische Glanzlichter und editorische Mühen, Sergei Romaschko aus Moskau und Gabriele Leupold aus Berlin über im fremdländischen Text versteckte Zitate oder offene Anspielungen, und schließlich Swetlana Geier aus Freiburg und Michael Rudnicki aus Moskau über Körpersprache und Sprachkörper.
Wie geht es zum Beispiel an, dass Dostojewskis Held Raskolnikow zu Beginn des Romans in einem verschachtelten Satz aus dem vierten Stock direkt auf die Straße tritt? Müsste man da nicht irgendwo eine Treppe einfügen oder die Bewegung des Herabsteigens? Lange hat Swetlana Geier darüber nachgegrübelt. Bis einer ihrer Studenten den berühmten Satz auf Russisch langsam vorlas und sagte: „Merken Sie denn nicht? Der Satz selber bildet die Treppe.“ Indem er die Sprache der Körper in Worte kleidet, ist der Autor schon selbst ein Übersetzer.
Es ist deshalb eine gefährliche Versuchung für ÜbersetzerInnen, deutlicher zu werden als der ihnen vorliegende Originaltext. Ganz nebenbei erkennt man in diesem Film auch ÜbersetzerInnen-Persönlichkeiten und ahnt, wie untrennbar sie in die Resultate ihrer Arbeit verwoben sind. „Meine Leser finden sich niemals dem russischen Text Auge in Auge gegenüber“, sagt Swetlana Geier: „Ich stehe immer dazwischen.“ Das Übersetzen von Literatur – in der Sowjetunion und der DDR stets eine angesehene Tätigkeit – hat jüngst auch in Westeuropa eine gewisse Aufwertung erfahren. Heute nimmt hier der Männeranteil unter den Professionellen zu.
Ja, und macht die so wertgeschätzte Arbeit glücklich? Darauf bekommt man am Ende des Films eine Hand voll verschiedener Antworten. Tatjana Baskakova geht es schlecht, wenn sie mal einen Tag lang nicht übersetzt. Thomas Reschke hat es früher eine diebische Freude bereitet, wenn er mit seinen Übersetzungen dem DDR-System eins auswischen konnte. Und Dorothea Trottenberg sagt: „Glücklich? Nein, aber es macht Spaß.“
BARBARA KERNECK
„Spurwechsel“. Film von Gabriele Leupold, Eveline Passet, Olga Radetzkaja, Anna Schibarowa und Andreas Tretner. Heute, 20 Uhr, LCB, Am Sandwerder 5