: Verfassung aus der Black Box
Afghanistans Bevölkerung soll den ersten Entwurf eines neuen Grundgesetzes beraten, ohne ihn überhaupt einsehen zu können. An vielen wichtigen Fragen scheiden sich auch innerhalb der Verfassungskommission noch die Geister
aus Kabul JAN HELLER
Die Afghanen sollen Vorschläge einsenden, die den ersten, jetzt fertig gestellten Entwurf der „neuen Verfassung für ein neues Afghanistan“ weiter „vervollkommnen“ sollen. Dazu forderte jüngst das staatliche Radio auf. Besonders Geistliche und Intellektuelle sind angesprochen. Was zunächst wie ein Vorgehen nach dem Demokratie-Lehrbuch aussieht, ist aus der Nähe betrachtet recht merkwürdig. Die achtköpfige Verfassungskommission überreichte den Entwurf zwar Präsident Hamid Karsai, die Bevölkerung bekommt ihn aber nicht zu Gesicht. Er sei noch zu roh, heißt es aus der Kommission, die von Vizepräsident Nematullah Schahrani geleitet wird. Das Gremium wollte auch keine Pressekonferenz einberufen, sondern ließ die Staatsmedien nur eine Verlautbarung drucken.
Darin wird versichert, die neue Verfassung werde nach drei Krisenjahrzehnten „ein neues Kapitel der Rechtsstaatlichkeit“ sowie von „Frieden und Ruhe“ in der Geschichte des Landes öffnen. Sie werde aus dem „islamischen Denken, den nationalen kulturellen Traditionen sowie anderen Quellen“ schöpfen. Weiter ist von „sozialer Gerechtigkeit“, „Demokratie“, „Rede- und Pressefreiheit“ sowie vom Verbot jeglicher Diskriminierung und der Privilegien ethnischer, religiöser und politischer Art die Rede. Ob es mehr in konservativer oder moderner Richtung geht, wird nicht klar. Durchgesickert ist, dass die Kommission sich mit vier großen Kontroversen herumschlägt.
Soll Afghanistan Republik werden oder zur Monarchie zurückkehren? Letzteres lehnen die ehemaligen Mudschaheddin-Führer, die in Kabul das Sagen haben, vehement ab. Soll das Land zentralistisch oder eher föderativ organisiert sein? Für die paschtunische Mehrheit, die seit 250 Jahren fast alle Staatsoberhäupter stellte, ist ein Bundesstaat ein Anathema, während Minderheiten wie Usbeken oder Hasara auf regionaler Ebene mehr mitreden wollen. Soll das Land ein Ein- oder ein Zwei-Kammer-Parlament erhalten? Mit einer Art Nationalitätenrat als Oberhaus, um ethnische Spannungen auszugleichen?
Am schwierigsten aber ist die Frage, welche staatsrechtliche Rolle dem Islam zugeschrieben werden soll. Erhält die Scharia Priorität als Rechtsquelle oder werden die recht liberalen Bestimmungen der Verfassung von 1964 aufgenommen, die seit der Bonner Afghanistan-Konferenz provisorisch wieder in Kraft ist? Eine positive Neuerung wird es wohl geben: Erstmals wird die Rechtsschule der Schiiten – ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung – erwähnt und damit offiziellen Status genießen.
Als Staatsmodell favorisiert die Kommission dem Vernehmen nach derzeit das ägyptische Vorbild mit einem Staatspräsidenten, der exekutive Vollmachten erhielte und den Premierminister ernennen würde, der dann ein Vertrauensvotum des Parlaments benötigte. Ägypten zeigt aber auch die schleichende Islamisierung des Rechtswesens, die bisher nur durch einen autoritären Präsidenten ausbalanciert wird. Das ist Karsai nicht.
Der Staatschef, ein Modernist, sprach Anfang des Jahres in seiner ersten Stellungnahme zum Thema von einem demokratischen Modell „auf islamischer Grundlage“ mit Teilen des traditionellen Dschirga-Systems. Bildungsminister Junus Kanuni setzte sich für Frauen- und Bürgerrechte ein, will aber die „Rechte der Märtyrer“ verankern, „ohne die wir heute keine Freiheit hätten“. Viele lesen das als Führungsanspruch der ehemaligen Mudschaheddin. Deren Organ Stimme des Mudschahed bezweifelte denn auch die Legitimität neuer demokratischer Gruppen, weil sie angeblich „keine Rolle“ im Kampf gegen die Sowjets gespielt hätten.
Wer sich dem entgegenstellt, dem droht politische Abschiebung. Der Exfrauenministerin Sima Samar, vom selben Blatt während der Loja Dschirga als „afghanischer Rushdie“ diffamiert und danach mit dem einflusslosen Vorsitz der nationalen Menschenrechtskommission abgespeist, riet lauf Diplomatenäußerungen der UN-Gesandte Lakhdar Brahimi sogar, als Botschafterin ins Ausland zu gehen.