BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: „Ach so, die Bilder oben ohne“

Kaum im Westen angekommen, bewarb ich mich für einen Film. Titel: „Eis am Stiel“. Ich hatte ja keine Ahnung

Heute will ich etwas bekennen. Etwas, das mir peinlich ist. Keine Angst. Bei der Stasi war ich nicht. Dafür bin ich viel zu geschwätzig und vergesslich. Es geht um meine ersten Versuche, nach dem Zusammenbruch des Arbeiter-und-Bauern-Staats im Westen Arbeit zu finden.

Zuerst wollte ich auf Messen jobben. Denn ich verfügte über reichhaltige Erfahrungen auf der Leipziger Frühjahrs- und Herbstmesse. Also hin zur Messegesellschaft. Ich fand einen riesig langen Flur vor, von dem rechts und links jede Menge Türen abgingen und wo sich die Menschen förmlich stapelten. Ich richtete mich auf mehrere Stunden Wartezeit ein. Nach zwei Minuten ging eine Tür auf und eine Frau rief: „Der Nächste, bitte!“ Niemand stand auf. Also ging ich rein.

Ich erzählte der Dame von meinen Spanisch- und Englischkenntnissen und Messeerfahrungen. Desinteressiert hörte sie zu und füllte währenddessen ein Formular aus. „Haben Sie drei Wochen Zeit und wollen 1.000 Mark verdienen?“, fragte sie. Ich war baff. 1.000 Westmark. „Klar“, sagte ich. Sie drückte mir einen Zettel in die Hand und schickte mich raus. Meine Freude währte nicht lange.

Als ich auf den Zettel blickte, merkte ich, dass etwas falsch gelaufen war. Ich hatte unterschrieben für einen Job als Hilfskraft in einem Pharmaunternehmen. Drei Wochen lang musste ich am Fließband Pillen sortieren und verpacken. Ich war statt in einem Büro der Messegesellschaft in einem Büro des Arbeitsamts gelandet, das auf dem gleichen Gang residierte. Dumm gelaufen.

Doch etwas Gutes hatte der Job: Ich lernte Susi kennen. Susi war eine lustige Irin mit roten Backen, die zum Studieren nach Deutschland gekommen war. Kurze Zeit später zog ich in die WG, in der sie lebte. Fortan begaben wir uns zusammen auf Arbeitssuche. Schnell wurden wir fündig. Wir lasen in einer seriösen Stadtillustrierten eine Anzeige, in der eine Produktionsfirma junge Mädchen als Schauspielerinnen suchte. In Klammern stand „Eis am Stiel“. Weder Susi noch ich wussten etwas damit anzufangen. Wir vereinbarten einen Termin.

Etwas aufgeregt betraten wir einige Tage später ein mondänes Haus in einer Seitenstraße des noblen Kurfürstendamm. Ein gut aussehender, junger Mann empfing uns in einer geräumigen Altbauwohnung. Er wollte Alter, Körpergröße, Gewicht und Augenfarbe wissen und begleitete uns dann in ein Nebenzimmer. „Wir brauchen Bilder für die Kartei.“ Logo. Beeindruckt blickten wir uns um: edles Parkett, Stuck an den Wänden und eine Kamera vor einer großen, weißen Leinwand. Nach einigen Minuten steckte der Mann seinen Kopf zur Tür herein. „Ach so, die Bilder oben ohne.“

Susi und ich blickten uns an. „Waaaaaas?“ Wir glaubten, uns verhört zu haben. Unsere Überraschung überspielten wir mit hysterischem Gegicker. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich einen anderen Schlüpfer angezogen“, schoss es mir durch den Kopf. Wir wollten uns keine Blöße geben und machten uns frei. Als ich das Polaroidfoto von mir sah, bekam ich einen Schreck. Blass, mit hängenden Schultern, ausgeleierter Unterhose und einem gequälten Lächeln sah das nach Kinderpornografie aus. Der Mann versprach sich zu melden. Susi und ich schworen uns, niemandem davon zu erzählen und auch nicht zurückzurufen, sollte sich das Büro melden.

Einige Wochen später fand ich im Fernsehprogramm die Ankündigung eines Films mit dem Titel „Eis am Stiel“. Neugierig schalteten Susi und ich ein. Wieder haben wir uns bald totgelacht. Aber diesmal nicht über uns, sondern über diese dummen, kleinen, barbusigen Blondinchen, die zusammen mit pickeligen Jungs erste sexuelle Erfahrungen machten. Oh Gott, dafür hatten wir uns beworben!

Neulich wurde ich wieder an meine damalige Unwissenheit erinnert. Ich war in einer halblegalen Kellerbar in einem ehemals besetzten Haus im schicken Berlin-Mitte – und was hing dort an der Wand? Genau. Jede Menge Plakate von „Eis am Stiel“-Filmen. Ich war noch nie so froh wie in diesem Moment, einen Job nicht bekommen zu haben.

Fragen zur Westarbeit? kolumne@taz.de Morgen: GERÜCHTE von Barbara Dribbusch