: Die Haft nach der Haft ist rechtmäßig
Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die 1933 eingeführte Sicherungsverwahrung nicht gegen die Menschenwürde. Allerdings soll künftig der Großteil der Betroffenen nach zehn Jahren auf freien Fuß gesetzt werden
VON CHRISTIAN RATH
Die Sicherungsverwahrung für vermeintliche Rückfalltäter verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Dies erklärte gestern das Bundesverfassungsgericht in einer überraschend grundsätzlichen Entscheidung. Zugleich betonten die Richter, dass ein Straftäter nach zehn Jahren Sicherungshaft nur im Ausnahmefall weiter hinter Gitter bleiben muss.
Sicherungsverwahrung, das ist die 1933 eingeführte Sicherungshaft nach der Strafhaft. Hier wird ein Häftling auch nach Verbüßung seiner eigentlichen Strafe nicht entlassen, sondern muss aus Sicherheitsgründen weiter im Gefängnis bleiben. Zwar sind derzeit nur rund 300 Menschen davon betroffen. Die Zahl der Verwahrten hat sich in den letzten Jahren aber fast verdoppelt und wird vermutlich weiter ansteigen.
Geklagt hatte der heute 46-jährige Reinhard M., der in Schwalmstadt (Hessen) einsitzt. 1986 war er wegen eines versuchten Raubmordes zu fünf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Damals konnte diese Maßnahme laut Gesetz zunächst nur für zehn Jahre verhängt werden, jedoch hob der Bundestag im Jahr 1998 diese Befristung auf. Die Folge: M. wurde nicht, wie von ihm erwartet, im Jahr 2001 aus dem Gefängnis entlassen. Er legte deshalb Verfassungsbeschwerde ein und berief sich auf eine Klausel im Grundgesetz, wonach es verboten ist, Strafgesetze rückwirkend anzuwenden. Niemand dürfe härter bestraft werden, als es zum Zeitpunkt der Tat im Gesetz vorgesehen war. Hätte M. Erfolg gehabt, wäre etwa ein Drittel der deutschen Sicherungsverwahrten frei gekommen. Doch das Verfassungsgericht wies M.s Klage nun zurück. Die Richter stellten einstimmig klar, dass das Rückwirkungsverbot nur für die eigentliche Strafe gilt. Die Sicherungsverwahrung sei aber keine Strafe, sondern diene ausschließlich der Verhütung zukünftiger Rechtsbrüche.
Mit sechs zu zwei Richterstimmen erklärte der Zweite Senat außerdem, dass M. auch keinen sonstigen „Vertrauensschutz“ genieße. Damit hat der Gesetzgeber im Maßregelvollzug künftig großen Gestaltungsspielraum. Neuregelungen bei der Sicherungsverwahrung, aber auch bei der Unterbringung von Straftätern im Entzug oder der Psychiatrie, gelten nun immer auch für die bereits Einsitzenden.
Mit dem Ergebnis war gerechnet worden. Spannend wurde es jedoch, als die Richter die Sicherungsverwahrung auch grundsätzlich bewerteten. Sie kamen dabei zum Schluss, dass die Sicherungshaft kein Verstoß gegen die Menschenwürde und das Freiheitsgrundrecht ist – solange die Maßnahme wegen der Gefährlichkeit des Häftlings auch wirklich erforderlich ist.
Für die Zulässigkeit der Regelung sprach vor allem, dass die Täter alle zwei Jahre begutachtet werden. Allerdings mahnte Karlsruhe, es dürfe dabei keine bloß „wiederholenden Routinebeurteilungen“ geben. Vielmehr sollten die Gutachten einem hohen Standard entsprechen. Brisant ist die Forderung aus Karlsruhe, dass die künftige Gefährlichkeit eines Täters vor allem im Rahmen von Vollzugslockerungen überprüft werden soll. Derzeit lehnen die Haftanstalten solche Lockerungen mit Hinweis auf die Gefährlichkeit oft von vornherein ab – weshalb sich Gutachten dann nur auf den wenig aussagekräftigen Haftalltag beziehen können.
Noch höhere Anforderungen stellten die acht Verfassungsrichter nach Ablauf von zehn Jahren Sicherungshaft. Ab jetzt sei jeder Häftling zu entlassen, wenn seine Gefährlichkeit nicht sicher feststehe. Die Entlassung nach zehn Jahren Extrahaft erklärten sie ausdrücklich zum Regelfall, das weitere Wegsperren zur Ausnahme. Weil die Haft nach der Haft keine Strafe mehr ist, sondern nur noch der Sicherheit der Bevölkerung dient, hielten die Richter „privilegierte Haftbedingungen“ für angebracht. Konkrete Vorgaben machten sie aber nicht, vielmehr ließen sie Spielraum für die „Belange“ der Haftanstalten.
Am kommenden Dienstag wird das Verfassungsgericht noch ein zweites Urteil zur Sicherungsverwahrung sprechen. Dann geht es um Landesgesetze, unter anderem aus Bayern, die noch über das Bundesrecht hinausgehen.