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Archiv-Artikel

Belüge deinen Nächsten wie dich selbst!

Das Flunkern als Kulturtechnik erlebt eine Renaissance. Nicht nur TV-Shows wie die „J-Show“ belegen dies. Auch die Kriegsherren Bush und Blair beweisen, dass Lügen funktioniert. Und wir? Legen wir nicht auch täglich falsch Zeugnis ab – in Steuererklärungen, beim Spiel und in der Liebe?

Die Lügner Bush und Blair glauben wirklich an das von ihnen imaginierte Szenario

VON CHRISTIAN SEMLER

Weshalb lügen wir, besser: Warum sagen wir bewusst die Unwahrheit? In einer ersten Annäherung könnten wir antworten: Um einen Vorteil zu ergattern. Beispielsweise ein Mehr an materiellem Gewinn, ein Mehr an Achtung in den Augen der Mitmenschen. Oder wir lügen, sei es aus Vorsicht oder aus Bequemlichkeit, denn die Wahrheit zu sagen führt oft auf ein Terrain, auf dem von allen Seiten Gefahren lauern und am Ende jener der Dumme ist, der rückhaltlos bei der Wahrheit blieb.

Der enge Zusammenhang von Lüge und Vorteil bringt es mit sich, dass Lügen in den Augen vieler Zeitgenossen als eine Art individuelle Sozialtechnik mit dem Ziel der Nutzenoptimierung gilt – und dies vor allem in der Form der Täuschung des jeweiligen Gegenübers.

In unserer Gesellschaft wird mit Ausdauer und Hingabe gelogen und getäuscht, vor allem wenn der Adressat unpersönlich und/oder das Risiko der Aufdeckung gering bleibt. Versicherungsbetrug oder das Abfassen steuermindernder Erklärungen: auf diesen Feldern der Lüge und des Betrugs kann aber ein Problem entstehen, denn die Täuschung setzt voraus, dass wir zu den wenigen gehören, die zu solchen Mitteln greifen.

Werden aber Lügen und Täuschungen zu endemischen Phänomen, so können die dann eintretenden Folgen (Steuer- beziehungsweise Prämienerhöhungen, Verschärfung der Kontrollen) den erreichten Vorteil wieder zunichte machen.

Hier setzen die Überlegungen der Spieltheorie ein, die einen oder mehrere Mitspieler darüber belehrt, was jeweils zu tun ist, wenn über die Absichten des oder der Mitspieler Unklarheit herrscht und es darauf ankommt, zu den jeweiligen Gewinnern zu gehören. Mit spieltheoretischen Überlegungen muss sich beispielsweise jedes Unternehmen herumschlagen, das einem Kartell angehört und erwägt, aus ihm auszubrechen.

Auch seitens der Unternommenen können solche Erwägungen eine Rolle spielen, zum Beispiel bei der Beantwortung der Frage, ob es sich noch nicht oder nicht mehr lohnt, einer Gewerkschaft beizutreten. In der ökonomischen Entscheidungstheorie nennt man das rational choice.

Die Kombination zwischen strategischem Lügen und der praktischen Anwendung der Spieltheorie erfreut sich in der Unterhaltungsindustrie zunehmender Beliebtheit. Ein letztes Beispiel für diesen Trend liefert die – aus den Niederlanden importierte – „Judas-Show“ bei Kabel 1. Hier geht es darum, dass fünf Mitspieler um 40.000 Euro streiten, wobei jeder ins Feld führt, weshalb er das Geld besonders dringend benötigt.

Drei Spieler werden als minder würdig herausgewählt, die letzten zwei verhalten sich nach der spielthoretischen Lieblingssituation des prisoner dilemma. Das heißt, sie kooperieren entweder beide (und jeder erhält die Hälfte), oder einer kooperiert, während der andere alles haben will (und alles gewinnt), oder beide wollen alles (und gewinnen nichts). Dieses Verfahren wird nun angereichert durch die Regel, dass einer der Beteiligten mit der Story seiner Bedürftigkeit lügt. So entsteht ein Klima des Verdachts, das die Bildung stabiler Allianzen verhindert.

Theoretisch hätten die zwei Teile einer solchen fest gefügten Koalition gute Chancen, je 20.000 Euro zu gewinnen, wenn sie die Anfangsrunde überstehen würden. Da aber das Prinzip der individuellen Gewinnmaximierung vorherrscht, ist die wahrscheinlichste Lösung jene, dass jeder der Teilnehmer des Finales alles haben will – und damit nichts erhält. Das Infame an dieser ganzen Konstruktion beruht darauf, dass rationale Entscheidungen der Spieler ständig von Überlegungen durchkreuzt beziehungsweise überlagert werden, wer denn das Geld am nötigsten braucht, wer es noch am ehesten allein schaffen könnte und wessen (Leidens-)Geschichte sowieso erlogen ist. Aber diese Gerechtigkeitserwägungen sind nur Tarnung, die vom Publikum wie von den Spielern durchschaut wird. Die Botschaft ist eindeutig: Sorge um den Mitmenschen und gerechtes Teilen sind bloßer Schein, allenthalben triumphiert der nackte Egoismus.

Spiegeln sich hier gesellschaftliche Verhältnisse? Ja und nein. Naiv wäre, anzunehmen, dass in einer Gesellschaft, in der uns tagtäglich das Lied „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vorgespielt wird, dies ohne Auswirkungen auf egoistische, im Zweifel skrupellose Strategien des Fortkommens bliebe. Andererseits belehrt uns schon die Alltagserfahrung, dass ohne Solidarität und Rücksichtnahme auf allen Ebenen das Unternehmen Gesellschaft binnen kurzem an die Wand gefahren würde.

Ohne Solidarität wird das Unternehmen Gesellschaft an die Wand gefahren

In einer konkreten Entscheidungssituation für den Einzelnen durchkreuzen sich Egoismus und Altruismus, traditionelle Wertorientierungen und „moderne“ Bindungslosigkeit. Aus einem so krummen Holz sind wir nun mal geschnitzt. Was wird den Ausschlag geben? Der gesellschaftliche politische Kampf, vorbildhafte Aktionen, einleuchtend durchargumentierte Programme, die emotional wie intellektuell anschlussfähig sind. Die zum eigenen Vorteil lügende und betrügende, nutzenmaximierende Monade ist nichts als ein Kunstprodukt der ökonomischen Theorie.

In der größten der Kommunikationsarenen, der der politischen Öffentlichkeit, läuft aktuell das Drama „Wahrheit und Lüge in der Politik“. Sind wir seitens der US- und britischen Regierung belogen worden, als von der zumindest drohenen Gefahr die Rede war, die Massenvernichtungswaffen in der Hand von Saddam Hussein darstellten?

Natürlich wurde auch hier um des Vorteils willen gelogen: Massenloyalität sollte erreicht, ein strategisch wichtiges Land sollte der eigenen Einflusssphäre einverleibt werden. Das eigentlich Gefährliche an diesen politischen Lügen ist aber nicht die Täuschung, sondern die Selbsttäuschung. Die Lügner Bush und Blair glauben an das von ihnen imaginierte Szenario, ihr Sinn für die Wirklichkeit ist getrübt. Sie sind Gut/Böse-Fanatiker, Manichäisten aus Überzeugung.

Deshalb wird unter ihren Händen die Lüge zur Wahrheit. Wir tagtäglichen Wahrheitsverdreher sind gezwungen, von den Tatsachen notgedrungen Kenntnis zu nehmen, die unsere Behauptungen Lügen strafen. Sie aber sind resistent. Darin liegt ihre Gefährlichkeit.