„Tödliches Versehen“

Der Soldat setzte ihm das Gewehr an den Mund und drückte ab, erzählt Mustafa Kuassas Dass Zivilisten betroffen sind, ist Schuld der Terroristen, so der General

AUS NABLUS SUSANNE KNAUL

Gegen vier Uhr morgens kamen die Soldaten, erinnert sich Mustafa Kuassas. Sie stürmen das Haus der Familie Kuassas, im Rafadia-Viertel in Nablus, der drittgrößten palästinensischen Stadt im Autonomiegebiet. Sie befehlen dem 26-jährigen Abdel Afur, in den Garten zu kommen, und konfrontieren ihn dort mit einem kurz zuvor verhafteten Palästinenser.

„Kennst du den Mann?“ – „Nein.“ Daraufhin schießen ihm die Soldaten ins Bein. Sie fragen noch einmal, ob Abdel Afur den Palästinenser kenne. „Nein“, antwortet er wieder, und diesmal schießen sie ihm in die Hüfte. Sein Bruder Mustafa steht währenddessen am Fenster, so erzählt er später, und beobachtet die Szene. Ein Kommandant kommt zu ihm, ergreift seinen Arm und zieht ihn aus dem Haus. „Ich sollte mir ansehen, was sie mit meinem Bruder machen. Sie sagten, er hätte Waffen versteckt.“

Wieder fragen die Soldaten Abdel Afur nach dem Palästinenser. Nach dem dritten Nein „setzt ihm ein Soldat das Gewehr unmittelbar an den Mund und drückt ab“. So weit die Schilderung von Mustafa Kuassas.

Abdel Afur ist der jüngste Fall von insgesamt 18 Todesopfern einer israelischen Militäroperation, die Ende Dezember begann. Die Aktionen konzentrieren sich auf die Stadt Nablus, ein Zentrum palästinensischen Widerstands.

Die Version der israelischen Armee zu diesem Fall sieht jedoch ganz anders aus. Man weist die Vorwürfe weit von sich. Die Soldaten waren im Rahmen der groß angelegten militärischen Operation zwar in das fragliche Grundstück eingedrungen, so der Sprecher des Militärs, aber nur, weil sie hier militante Palästinenser vermuteten. Sie trafen dort auf den gesuchten Fatach-Aktivisten Ibrahim Atari. Der Aktivist habe eine Waffe in der Hand gehalten und sei sofort erschossen worden. Elf weitere Männer hätten sich freiwillig gestellt. Als die Soldaten eine verdächtige Bewegung in einem Strauch wahrnahmen, hätten sie das Feuer eröffnet und Abdel Afur getötet.

Die Stadt Nablus sei ein „Stützpunkt des Terrors“, begründet der israelische Brigadegeneral Amir, Kommandant der Militäroperation, das Vorgehen seiner Armee. Sie verfüge über „die Infrastruktur, über Organisatoren und Helfer für Attentate“. Anlass der jüngsten Militäroperation seien „nachrichtendienstliche Informationen“ gewesen.

Fünf gezielte Hinweise darauf, dass in der Stadt neue Terroranschläge geplant würden, hätten den Militärs vorgelegen. Dass Zivilisten betroffen seien, liege daran, dass die „Terroristen unschuldige Familien auf zynische Weise missbrauchen“, wenn sie ihre Sprengstoffwerkstätten „in den Kellern Unbeteiligter verstecken“.

Schon am Tag nach der Tat, an einem kalten Januarmorgen, nimmt Mustafa, 30 Jahre alt, schmächtig, mit hohen Backenknochen und übermüdeten Augen, Kondolenten in Empfang. Starr steht er auf dem Treppenabsatz der nach vorne offenen Trauerhalle, in der Bilder von seinem jüngeren Bruder und dem in der gleichen Nacht getöteten militanten Fatach-Aktivisten Ibrahim Atari hängen. Atari ist der Mann, den Abdel Afur identifizieren sollte.

Durchgefroren von Dauerregen und Wind, zieht Mustafa vor der Trauerhalle die dünne Lederjacke enger um sich und greift nach einer Zigarette. „Die Gesichter der Soldaten waren mit schwarzer Farbe bemalt. Ich stand nur wenige Meter von meinem Bruder entfernt, als er starb“, erzählt Mustafa von den Schrecken der Nacht.

Warum ließen ihn die Soldaten Zeuge der Hinrichtung werden? „Ich kann mir das nur so erklären, dass sie uns Angst machen wollten. Sie wollten uns dazu bewegen, dass wir mit den Soldaten kooperieren.“ Abdel Afur, war „nie im Gefängnis“ und „gehörte keiner Widerstandsgruppe an“.

Doch vor kurzem war er Zeuge der Erschießung einer älteren Frau mitten in der Stadt geworden. Und er hatte mit Menschenrechtsorganisationen über diesen Vorfall gesprochen. Das ist die einzige Erklärung, die Mustafa für die Tat der israelischen Armee finden kann.

Seiner eigenen Logik folgend, müsste Mustafa jetzt ebenso auf der Liste potenzieller Exekutionsziele der israelischen Armee stehen wie zuvor sein Bruder. Aber „nein, Angst habe ich keine“, sagt er. Die habe er auch nicht gehabt, als die Soldaten ihn nach dem Mord an seinem Bruder zum Verhör abführten. Fünf Stunden später kam er gerade rechtzeitig zur Beerdigung wieder auf freien Fuß – mit „noch immer auf den Rücken gebundenen Händen“.

Zwei Seiten, zwei Versionen: Mehr Klarheit über den tatsächlichen Tathergang könnten die Körper der Toten geben. Doch die Leiche zur Obduktion freizugeben – das stand für die Familie Kuassas nicht zur Debatte.

Der Islam verbietet Autopsien. Ausnahmen gibt es nur, wenn eine gerichtliche Anordnung vorliegt. Und „die Sache vor Gericht bringen hat doch keinen Sinn“, meint Mustafa. Er hegt keine Hoffnung auf strafrechtliche Verfolgung der Todesschützen. „Mein Bruder war nicht der erste und wird auch nicht der letzte Fall bleiben.“ So wie er denken viele. Der Verzicht auf eine Untersuchung der Toten erschwert die Arbeit der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem, die das Vorgehen gegen palästinensische Zivilisten regelmäßig dokumentiert. Ohne handfeste Beweise bleiben die Feldforscher auf Zeugenaussagen angewiesen.

Wie im Falle Abdel Afur Kuassas stehen auch in weiteren 16 Todesfällen, zu denen es bei dieser Operation kam, die Aussagen der Armee gegen die Aussagen der Palästinenser. Die einzige Ausnahme bildet ein fünfjähriger Junge, der, wie auch die Armee eingesteht, „versehentlich“ erschossen worden war. Alle anderen Opfer seien in den bewaffneten Kampf verwickelt gewesen.

Es findet ein „Krieg der Versionen“ statt, resümiert ein israelischer Fernsehreporter die widersprüchlichen Berichte über die Militäroperation. Dieser „Krieg“ wird von den Betroffenen ausgefochten, von den Augenzeugen, aber auch von Menschenrechtsorganisationen, Ärzten und von Mahmud Alul, dem Gouverneur der Stadt.

Unmittelbar nach dem Abzug der Soldaten beruft Alul am 8. Januar eine Pressekonferenz ein. Weil sein Amtssitz zerbombt wurde, arbeitet er in dem spartanischen Büro eines noch im Bau befindlichen mehrstöckigen Hauses. Hinter dem Schreibtisch des knapp 60-Jährigen hängt das Bild Jassir Arafats, Tempelberg und Al-Aksa-Moschee zu seiner Rechten. Alul wettert gegen den israelischen Premierminister Ariel Scharon, der seine Truppen zu „sadistischem Treiben“ anhält, ohne dafür international verurteilt zu werden. Der Gouverneur zögert nicht, von einem „Massaker in Nablus“ zu sprechen, ein Begriff, der hinsichtlich der Ereignisse im Flüchtlingslager von Jenin im Frühjahr 2002 bis heute umstritten ist.

Die Kamerateams filmen das Beweismaterial eines Arztes – Röntgenaufnahmen getöteter Palästinenser, die auf Kopfschüsse aus geringer Entfernung schließen lassen. Auf der Aufnahme eines Rumpfs sind mehrere pfeilähnliche Nägel zu erkennen, die darauf hindeuten, dass die Soldaten so genannte Dumdumgeschosse einsetzten, Kugeln, die erst im Körper explodieren, um dort Nägel zu zerstreuen. Im Verlauf der Pressekonferenz wird einer dieser Nägel herumgereicht, den die Ärzte erklärtermaßen aus dem Körper eines „Schahid“ (arab. „Märtyrer“) geholt haben.

Auf offizieller israelischer Seite wird die Operation in Verbindung mit einem Terrorattentat Ende Dezember unweit von Tel Aviv gebracht. Tatsache ist, dass die Soldaten schon gut eine Woche vor dem Vorfall in Nablus einmarschierten.

Der Pharmaziestudent Said Maawa verrichtete gerade seinen freiwilligen Dienst als Helfer des Roten Halbmonds. Erst drei Tage nach Beginn der Invasion durften die Sanitäter zu einer Familie, deren Haus teilweise zerstört worden war. „Wir haben drei Frauen und drei kleine Kinder geborgen, die die ganze Zeit über ohne frisches Wasser und Nahrungsmittel ausharren mussten“, berichtet der Anfang 20-Jährige. Auch die Stromversorgung sei gekappt gewesen, doch trotz der winterlichen Kälte habe er „alle gesund“ vorgefunden.

Said ist einer der ingesamt gut 100 freiwilligen Helfer in Nablus. Jeden zweiten Tag schlüpft er jeweils für acht Stunden in die Uniform des Roten Halbmonds. In den vergangenen Wochen sei er permanent draußen im Einsatz gewesen, um „schnell zur Stelle zu sein, wenn Hilfe nötig ist“. Mit Zwischenfällen rechnet er täglich, auch nach dem offiziellen Abzug der Soldaten.

Der hochgewachsene Student zwängt sich durch den Eingang eines verwüsteten Hauses. Heruntergerissene Deckenverkleidung, hinter der Stromkabel zum Vorschein kommen, eine leer geräumte Schrankwand, Reste zerbrochenen Geschirrs, das Badezimmer ist wasserüberflutet.

In den wöchentlichen Berichten des Militärsprechers, die auch im Internet nachzulesen sind, kommen in Bezug auf Nablus einzig die Zerstörung von Häusern überführter Terroristen zur Sprache sowie die Fälle von „Widerstand“ mit Todesopfern auf palästinensischer Seite. Zu dem Zwischenfall in Rafadia heißt es: „Die Truppen der Israelischen Verteidigungsarmee (IDF) identifizierten einen Terroristen in Rafadia, Nablus, der einen Revolver zog. Die IDF schoss und tötete den Terroristen.“ Abdel Afur Kuassas’ wird in den Berichten gar nicht erst erwähnt.

Mustafa und seiner Familie wird Abdel Afur als Märtyrer in Erinnerung bleiben, wie alle, die von einer feindlichen Kugel getötet wurden.

Ob Abdel Afur Kuassas ein Held war, als er den Kämpfer Atari nicht an die Soldaten auslieferte? Dazu möchte ihn die Familie Kuassas nicht verklären. Sein Bruder glaubt, dass Abdel Afur einfach nur die Wahrheit gesagt hat. Mustafa Kuassas ist sicher, dass Abdel Afur den gesuchten Mann wirklich nicht gekannt hat.