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Archiv-Artikel

Die glückliche Stunde

Wie verlief der einzige erfolgreiche Aufstand in einem Nazi-Vernichtungslager? Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ schildert es, indem er den Erzählungen von Yehuda Lerner, einem der Aufständigen, folgt und sich dabei auf dessen lebendiges Wort verlässt

Nach dem Aufstand wurde das Lager Sobibor von den Nazis aufgegeben

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Yehuda Lerner hat in verschiedener Hinsicht Einzigartiges erlebt. Darunter den einzigen erfolgreichen Aufstand in einem Nazi-Vernichtungslager. Doch schon vor dieser einen glücklichen Stunde, in der die Insassen das Lager Sobibor befreiten – in den knapp zwei Jahren zuvor war eine Viertelmillion Menschen ermordet worden –, war es Lerner gelungen, acht Mal aus Konzentrationslagern zu fliehen. In sechs Monaten. Jede einzelne misslungene Flucht führte normalerweise zur Hinrichtung. Aber Lerner hatte immer wieder das Glück, von nicht unmittelbar beteiligten Deutschen aufgegriffen worden zu sein statt vom KZ-Personal, das für die Verfolgung Flüchtender zuständig war und ihn sofort erschossen hätte.

Claude Lanzmann hat Lerner für „Shoah“ im Jahre 79 interviewt und später beschlossen, einen eigenen Film über den Aufstand von Sobibor auf der Basis dieses Gesprächs zu drehen. Dafür ist er zunächst den Stationen von Lerners Verschleppungen und Fluchten gefolgt, die diesen schließlich nach Sobibor gebracht haben. Ein Panorama von Warschau, wo Lerner zuerst in die Hände der Deutschen fiel, eine Hauptstraße in Minsk bei Dunkelheit, dann eine Lenin-Statue am selben Ort bei Tage. Darauf: „Das Loch“, ein Ort, wo Juden zusammengetrieben und erschossen wurden und heute ein Mahnmal steht. Immer entsprechen Lanzmanns Bilder der Schauplätze Lerners Schilderungen, deren exakten Jahres- und Tageszeiten. Oft stehen Gedenkstätten und Mahnmale heute da, wo Lerners Geschichte in den frühen 40ern gespielt hat.

„Museen und Gedenkstätten dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung“, sagt Lanzmann in einem Prolog, um dann die Vorteile seines Mediums zu betonen: „Hören wir das lebendige Wort von Yehuda Lerner!“ Im Presseheft wird dieselbe Stelle mit „lebendige Stimme“ übersetzt, aber unabhängig davon, was richtig wäre, „lebendiges Wort“ trifft den Grundgedanken des Films: Lerner macht nicht nur von seiner Stimme Gebrauch, er belebt buchstäblich die Worte, also seine Zeugenaussagen, die sein so unglaubliches wie höchst unwahrscheinliches Schicksal schildern. Die Kamera hängt nicht nur an seinen Lippen, sie sucht sein Charisma, das Charisma eines quasi Auserwählten. Lerner redet hebräisch. Man hört, wie eine Übersetzerin ihm Fragen stellt, die man vorher Lanzmann in der dritten Person auf Französisch hat formulieren hören: „Hat er früher schon einmal getötet?“

Die Präsenz von Lerner, gefilmt im Jahre 79, erfährt aber noch eine Steigerung nach etwa der Hälfte des Films. Zuerst hören wir ihn meistens nur und sehen ihn selten. Bis zu seiner Odyssee durch acht Lager nach Sobibor zeigt Lanzmann vor allem das heutige Aussehen der Schauplätze. Dazu hört man die Geräusche heutiger polnischer Kleinbahnen, die das Kamerateam schließlich ins Sobibor von 1996 bringen. Es gibt nur eine Abweichung von diesem Prinzip: Als Lerner erzählt, dass die SS sich Gänse hielt und diese aufscheuchte, wann immer Juden ermordet wurden, um deren Schreie durch das Geschnatter der Gänse zu übertönen, sehen wir minutenlang Gänseherden, wie sie schnattern und in merkwürdigen Konfigurationen im Kreise laufen.

Nach der Ankunft in Sobibor, wenn es darum geht, wie der Aufstand geplant und durchgeführt werden konnte, füllt Lerner die Leinwand. Lerner hat den Aufstand nicht geplant, er hat nur an seiner Ausführung in verantwortungsvoller Position teilgenommen. Er musste einen SS-Mann mit einer Axt töten, und seine Schilderung der Erfüllung dieser Aufgabe ist der Höhepunkt des Films. Lerner musste in Sekunden die Notwendigkeit einer geringfügigen Änderung des Plans gegenwärtigen und dann handeln. Er hat, wie er auf Lanzmanns wiederholte Nachfragen stolz betont, dem SS-Mann den ganzen Schädel gespalten, von oben bis unten. Die Spannung dieses Moments, „den man sein Leben lang nicht vergisst“, ergreift ihn sichtlich bei der Schilderung. Seine Freude über das Gelingen ist für Lanzmann der Anlass, noch einmal durchzuarbeiten, mit Lerner, wie und wodurch dieses Töten gerechtfertigt war und eben Freude noch heute aufkommt, wenn sein Gelingen vergegenwärtigt wird; auch im Zuschauerraum des Kinos natürlich hellen sich die Gesichter auf. Ein Augenblick des Release.

Die Frage nach der Rechtfertigung und nach dem Gelingen greifen ineinander. Nur weil die Gruppe, die mit Lerner zusammen nach Sobibor verschleppt wurde, ein klares Bild von den Deutschen hatte, konnte sie erfolgreich Widerstand leisten. Und aus dem gleichen Grunde konnte man auch absolut sicher sein, dass man sie töten musste. Es waren mörderische Bestien, daran bestand überhaupt kein Zweifel. Lerner und der eigentliche Organisator, der sowjetische Offizier Alexander Petscherski, hatten genug gesehen. Zugleich hatten sie auch ethnografisch genau hingeschaut und das alte Klischee von der Pünktlichkeit der Deutschen täglich aufs Grauenhafteste bestätigt gefunden. Die deutsche Pünktlichkeit ist in ihrem Plan die Pointe. Wären die einzelnen SS-Leute nicht auf die Minute an bestimmten Orten erschienen, wäre er gescheitert.

Lerner war irgendwann statt in ein normales Konzentrationslager in eines für sowjetische Juden geraten, die aus Kriegsgefangenen der Roten Armee aussortiert worden waren. Dass diesen jüdischen Kriegsgefangenen nicht von Anfang an versucht wurde, jede Würde zu nehmen, dass sie eben teilweise noch wie andere Kriegsgefangene behandelt wurden, scheint einer der Gründe zu sein, warum diese Gruppe, als sie schließlich im Vernichtungslager ankommt, seelisch noch so gut beisammen ist, dass sie den Aufstand in Angriff nehmen kann.

Später hat er nie wieder so getötet, erzählt Lerner. Als Partisan hat er auf Feinde geschossen, aber das war etwas anderes. Die Tötung eines SS-Mannes unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit rechtfertigen zu wollen, erscheint einem zunächst luxuriös bis überflüssig. Lanzmanns Bewunderung für Lerner und dessen Erzählung geht aber so weit, dass er eben auch das ausgesprochen und dargestellt wissen will: Zu dieser bewunderungswürdigen Tat gehört, dass sie absolut gerechtfertigt ist.

In einem Epilog verliest Lanzmann auf Englisch, vermutlich weil Untertitel das Bild ruiniert hätten, eine Liste aller Transporte ins Vernichtungslager Sobibor vor dem 14. Oktober 1943, während der Text der Liste langsam nach unten aus dem Bild rutscht und trotzdem immer länger wird. Nach dem Aufstand wurde das Lager von den Nazis aufgegeben. Heute gibt es dort „ein rührendes kleines Museum mit einem roten Dach“ (Lanzmann).

„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“. Regie: Claude Lanzmann, Frankreich 2001, 95 Min.