: Wut und Fliegen: nach Wolfsburg, nach Wolfsburg
Nach zehn Jahren kann das Kunstmuseum Wolfsburg nicht nur auf Aufsehen erregende Ausstellungen zurückblicken, sondern sich auch über den Wert seiner Sammlung freuen
Öde Inseln sind keine Orte, wo Freunde gern zu Besuch kommen. Das muss auch Gijs van Tuyl klar gewesen sein, als er nach Wolfsburg zog, um dort als Direktor ein Kunstmuseum aufzubauen. Wolfsburg: Dieser Betonfladen, umschlossen von einem Ozean aus niedersächsischen Kuhweiden! Allerdings haben einsame Inseln auch ihr Gutes: Man kann machen, was man will – und das hat van Tuyl getan.
Als der Holländer 1992 seine Arbeit aufnahm, erwarteten ihn ein Rohbau, viel Geld und keine Kunstwerke, die er zeigen konnte. Also ideale Bedingungen für die kreative Selbstentfaltung eines Museumsdirektors.
Die finanziellen Mittel für das Projekt stellte im Wesentlichen die Kunststiftung Volkswagen zur Verfügung. 1994 entriegelte das Museum erstmalig seine Drehtüren, und van Tuyl hatte schon ein paar Werke von Mario Merz, Jeff Koons und Gilbert & George zusammengekratzt. Die Shoppingtour ging weiter: Im nächsten Jahrzehnt jagte er jährlich sechs bis sieben Sonderausstellungen mit bekannten zeitgenössischen Künstlern durch seinen Museumskubus – und kaufte selbst, was ins Konzept passte und erschwinglich war.
Jetzt feiern Museum und Sammlung ihr zehnjähriges Bestehen. Seit Samstag zeigt das Haus in der Jubiläumsschau „Treasure Island: 10 Jahre Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg“ eine Auswahl der angehäuften „Kunstjuwelen“. Der Besucher tappt hier durch einen labyrinthartigen Ausstellungsparcours. Und stellt fest: Für kunstinteressierte Menschen hat sich das öde Eiland Wolfsburg tatsächlich in eine kleine Schatzinsel verwandelt.
Das Museum hat sich nichts aufdrängen lassen: „Wir hatten auch das Angebot, ein Picasso-Grafik-Museum zu werden“, erzählt van Tuyl. Doch er habe eine zeitgenössische Sammlung gewollt – schon um sich von den Konkurrenten in Hannover und Hamburg abzusetzen, deren Schwerpunkt damals bei der Klassischen Moderne lag. In Wolfsburg bekommt man sehenswerte Kunst ab dem Jahr 1968 aufgetischt: ein paar Brocken Arte povera, eine Prise Minimal Art und reichlich von den Urvätern der Videokunst. Ein großer Teil der Sammlung besteht aus neueren Werken – Bilder von Malern wie Michel Majerus oder Arbeiten von Kultkünstlern der jungen britischen Szene. In der Jubiläumsausstellung werden Damien Hirsts Fliegenbrutkasten und Douglas Gordons Zeitlupenversion des Hitchcock-Klassikers „Psycho“ gezeigt. Das Highlight von „Treasure Island“ ist ein neues Video von Doug Aitken: Alltagsaktivitäten auf drei Leinwänden verschmelzen zu einer Soundkulisse, einem einzigen wütenden Rap.
Zeitgenössische Kunst als Sammlungsschwerpunkt hat einen großen Vorteil: Die Künstler sind am Anfang noch recht billig – eine Chance, schnell eine umfangreiche Sammlung aufzubauen, die dann an Wert steigt. Van Tuyl scheint ein gutes Gespür für die neuesten Kunstentwicklungen zu haben. So präsentierte er 1997 die Young British Artists noch vor der berühmten Sensation“-Ausstellung in London. Zwei Jahre später holte er sich die junge deutsche Kunstszene ins Haus.
Mittlerweile besitzt das Kunstmuseum Wolfsburg eine zeitgenössische Sammlung der Güteklasse A – viel Frisches, wenig Faules. Allein der Besucher zögert noch vor der beschwerlichen Anreise. Um nicht nur die Sammlung, sondern auch den Ruf zu mehren, hat der Direktor in den letzten zehn Jahren einige Sonderausstellungen mit teuren Kunstgottheiten organisiert. Andy Warhol oder Jean Tinguely sollten normalerweise jede norddeutsche Oma hinter ihrem Kachelofen hervorlocken. Van Tuyls letzter großer Coup war eine Brassaï-Retrospektive, die vom Centre Pompidou in Paris nach Wolfsburg geschickt wurde. Bei solchen Ereignissen umweht das verschlafene Städtchen ein Hauch von Metropolenflair. Umso frustrierender, dass selbst in einem guten Jahr die Besucherzahlen des Kunstmuseums nicht an die vergleichbarer Museen in Berlin oder Hamburg heranreichen.
Doch das Haus und seine Sammlung sind noch jung. Wenn die vorhandene Kunst auch nach den nächsten zehn Jahren noch keinen Schimmel angesetzt hat und wenn weiterhin gute Künstler angekauft werden, dann kann sich Wolfsburg vielleicht tatsächlich als hippe Kunstinsel etablieren. „Eine Sammlung wird aufgebaut wie ein Gedicht“, orakelt Gijs van Tuyl. Bleibt zu hoffen, dass sich die zweite Zeile auf die erste reimt. TIM ACKERMANN
„Treasure Island: 10 Jahre Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg“: bis 18. April im Kunstmuseum Wolfsburg. Katalog: „Kunstmuseum Wolfsburg – Gesammelte Werke 1“, von 1999, Verlag Hatje Cantz, 34,80 €