: Mord in einem Gewerbegebiet
Düsseldorfs bekanntestes Bordell liegt neben dem Hauptbahnhof. Hinter einem der nummerierten Fenster direkt an den Gleisen wurde Anfang des Jahres eine thailändische Prostituierte ermordet. Doch bei Polizei und städtischem Ordnungsamt hat das Haus weiterhin einen guten Ruf
Durch einen Prostituierten-Mord rückte das meist beäugte Düsseldorfer Bordell am Bahndamm im Januar in die Schlagzeilen. Aber stimmen die Mythen und Phantasien über die berüchtigte Unterwelt, das Reich der Freier, Luden und Huren? Nein, sagen Polizei wie Ordnungsamt. Die Landeshauptstadt setzt stattdessen lieber auf Kooperation mit den Sexarbeiterinnen: „Das sind ganz normale Frauen, die arbeiten, die zahlen Steuern.“
VON LUTZ DEBUS
Eine schmale Gasse, beleuchtet mit dunkelgrünen Gaslaternen, zweigt direkt hinter der Bahnunterführung ab. Etwa dreihundert Meter geht man an den Schienen entlang, dann versperrt eine Mauer den Weg. Auf dieser ist großformatig als Wandgemälde das angedeutet, was man sich auch dahinter vorstellen soll: Damen mit langen Beinen in hohen Stiefeln und kurzen Kleidern und ein Herr mit Hut und Trenchcoat. Direkt vor der Absperrung gibt es drei Münzfernsprecher, einen Taxistand und ein Pissoir, an dessen Innenwänden Mitmenschen, hastig mit Faserstift geschrieben, diverse Körperöffnungen mit den dazugehörigen Handynummern anpreisen.
Nähert man sich der Absperrung, erkennt man zunächst viele Verbotsschilder. Betteln, Werben und Hausieren, Fotografieren, Radfahren und Hunde mit sich führen ist verboten. Und Jugendlichen unter 18 Jahren ist der Zutritt überhaupt untersagt. Eine Lücke in der Mauer gibt den Weg frei zu so etwas wie einem überdimensionalen Adventskalender für Herrenmagazinleser. Etwa hundert Fenster haben diese vier Häuser. Viele Fenster sind verschlossen und dunkel, andere geöffnet. In denen sitzen knapp bekleidete Frauen, manche wirken gelangweilt, manche winken.
Hier also wurde am Abend des diesjährigen Dreikönigstages ein Mord verübt. Nicht nur die Boulevardpresse, auch die christliche Rheinische Post berichteten ausführlich und genüsslich von dem Mord im Milieu. Pikantes wurde zu Tage gefördert. Zunächst war nicht klar, ob es sich um einen Mord oder um einen Selbstmord handelte. Schließlich hing das Opfer, eine 47-jährige thailändische Prostituierte, mit einem Kabel um den Hals am Fenstergriff ihres Zimmers. Entweder also hatte einer ihrer Kunden, aus was für Gründen auch immer, sie erdrosselt und wollte einen Suizid vortäuschen, oder aber hier zerbrach ein Mensch an seinen Verhältnissen. Jene Thailänderin übrigens hatte erst ein halbes Jahr zuvor mit einem chirurgischen Eingriff ihr Geschlecht gewechselt, war zuvor ein Mann gewesen. Spekulationen wucherten. Später ergaben die Ermittlungen, dass es sich nicht um ein Sexualdelikt, sondern um einen Raubmord handelte. Das Medieninteresse flaute ab.
“Nein, viel passiert da sonst nicht.“ Der Beamte vom Düsseldorfer Kriminalkommissariat 12, zuständig für Sexualstraftaten, versteht den Presserummel um den Mord nicht. „Ich arbeite seit zwanzig Jahren beim KK 12. Das ist der zweite Mord in diesem Gebäudekomplex, bei dem ich ermittle. Es ist da nicht so gefährlich, wie es in den Zeitungen dargestellt wird.“ Jedes Zimmer verfügt über einen Alarmknopf. Die Flure werden mit Videokameras überwacht. So konnte nun auch ein junger Mann der Tat überführt werden. Er ließ sich kurz vor und nach dem Mord filmen. Die Videokassetten werden nach einem Tag wieder gelöscht. Die Anonymität der Freier bleibt also gewahrt. Die Kameras dienen der Sicherheit der dort arbeitenden Frauen.
Die Straße, an der nur die Häuser Nr. 1, 3, 5 und 7 liegen, heißt tatsächlich „Hinter dem Bahndamm“. Ein Düsseldorfer Privatmann hat die Häuser genau für ihren Zweck in den späten Fünfziger Jahren erbauen lassen. Zuvor war die Gegend durch Straßenprostitution berüchtigt. In den teilweise noch ausgebombten Häusern fand das verruchte Nachtleben der Nachkriegszeit statt. Immer gab es Ärger mit Anwohnern. So wurden die neuen Häuser als Entlastung für alle Beteiligten erlebt. Als später die Bezirksregierung den ganzen Innenstadtbereich zum Sperrbezirk erklärte, machten die politisch Verantwortlichen für die vier Häuser eine Ausnahme.
Inzwischen unterhält ein Pächter die Gebäude. Laut Aussage der Kripo ist er kein Zuhälter, sondern eher eine Art spezieller Vermieter: “Prostituierte können für 80 bis 90 Euro pro Tag ein Zimmer mieten, dort arbeiten und, wenn sie wollen, auch wohnen. Sie erhalten frische Wäsche, Verpflegung und eben Sicherheit. Vom Vermieter angestellte Männer treten gegenüber Freiern, die die Hausordnung nicht befolgen, sehr selbstbewusst auf.“ Natürlich schließt die Polizei Zuhälterei nicht aus. Doch tätig werden kann sie erst, wenn von Betroffenen eine Anzeige vorliegt. Und das ist recht verpönt in der Szene. „Viele Frauen dort haben feste Freunde. Sie haben ja trotzdem oder gerade wegen ihrer Situation ein Bedürfnis nach Geborgenheit. Von den Freiern können die das nicht bekommen. Aber was sich dann in diesen Freundschaften abspielt, entzieht sich doch polizeilicher Erkenntnis.“
Heinz Nunnendorf ist beim Ordnungsamt für die Überwachung der Prostituierten zuständig. Auch er widerspricht dem Klischee des Halbseidenen. „Wir können in Düsseldorf generell recht zufrieden sein mit der Situation. Eine Zuhälterszene wie in Hamburg oder Frankfurt gibt es hier nicht. Kummer macht uns der Straßen- und Drogenstrich auf der Charlottenstraße. Gerade hinterm Bahndamm aber ist alles doch recht gut geregelt.“ Vom Pächter erhält er Kopien der Ausweise der dort arbeitenden Frauen. Nur Bürgerinnen von EU-Ländern erhalten eine Arbeitsgenehmigung.
In den Häusern hinterm Bahndamm arbeiten viele Frauen, die so aussehen, als kämen sie aus Afrika, Lateinamerika oder Asien. Die haben, so Nunnendorf, oft einen englischen, französischen oder niederländischen Pass, kommen aus Ländern, die früher Kolonien hatten. Doch viele dieser Frauen haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit, sind deutsche Ehefrauen oder Töchter deutscher Männer.
Auch Ramona, 41 Jahre alt, ist ehemalige Ehefrau eines Deutschen. Der hatte sich Ende der Achtziger Jahre während eines Urlaubs in Rumänien in sie verliebt. Kurz nach dem Ende des Ceausescu- Regimes holte er seine Angebetete zu sich. Die Ehe hielt aber nur vier Jahre. Zurück in das Elend Rumäniens wollte Ramona nicht. „Sex ist nicht schlimm. Wenn Menschen Blumen wären, würden sie das Blühen verbieten. Ob ich Sex mit einem oder mit vielen Männern habe, ist mir eigentlich egal. Blöd ist nur die Einsamkeit, dass ich in dieser Stadt niemanden kenne.“ Bedroht fühlt sich Ramona nicht, weder durch gewalttätige Männer noch durch Infektionen. „Bei mir gibt‘s nur Safer Sex!“
Seit dem Jahr 2000 gibt es keine Untersuchungspflicht mehr. Früher riefen die Frauen beim Anblick des Mitarbeiters vom Ordnungsamt noch: „Holt Euern Bockschein raus!“ Diese Zeiten sind vorbei. Trotzdem lassen sich schon aus eigenem Interesse fast alle Frauen hinterm Bahndamm regelmäßig auf ansteckende Krankheiten untersuchen.
Heinz Nunnendorf weiß, warum: „Auch wenn ein Freier ungeschützten Sex möchte, die Frauen wissen, dass das reiner Selbstmord wäre.“ Inzwischen versteht er sich eher als Mitarbeiter eines Serviceunternehmens. Er informiert die Frauen über Bestimmungen, stellt entsprechende Kontakte zum Ausländeramt, zum Finanzamt, bei der Anmietung anderer Räume auch zur Baubehörde her. Denn eine Wohnung, in der Prostitution betrieben wird, muss als Gewerbefläche, nicht als Wohnraum deklariert sein. Er hilft so den Frauen, ihre wirtschaftliche Existenz zu gründen und zu erhalten. Durch diese liberale Umgehensweise, die Düsseldorfer Linie, haben Zuhälterbanden wenig Chancen. Restriktive Politik, so Nunnendorf, arbeite gewalttätigen Strukturen im Milieu eher in die Hände. Kooperation zwischen Prostituierten und öffentlichen Stellen hingegen verhindere krasse Abhängigkeitsverhältnisse. Und für aussteigewillige Frauen führt das Gesundheitsamt sogar das Projekt BOA durch, eine berufliche Qualifizierungsmaßnahme. Zwei Teilnehmerinnen dieser Maßnahme haben inzwischen eine Ausbildung als Erzieherin angefangen.
Die soziale Welt der Frauen hinterm Bahndamm ist wenig spektakulär. Ist ihre Arbeit vielleicht doch so freundlich, wie das Wandgemälde am Eingang der Straße „Hinter dem Bahndamm“ vermitteln will? Gerade gehen zwei junge Männer, allerhöchstens 18 Jahre alt, Baseballkappen quer auf den Köpfen, Jeans tief hängend, an den aufgemalten Damen vorbei. Einer von beiden schimpft: „Was für eine Abzocke! 30 Euro für nicht mal zehn Minuten!“
Kein verbreiteter Mythos über Prostitution kann wirklich greifen. Hier findet sich weder das Babylon, das so manche männliche Phantasie sich erträumt. Aber auch die Legende von dem willenlosen Opfer, dass zu widerwärtigen Handlungen gezwungen wird, greift nicht. Noch einmal Heinz Nunnendorf: „Prostituierte sind ganz normale Frauen. Die arbeiten, die zahlen Steuern. Es wäre schön, wenn das mal in der Zeitung stehen würde!“