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Archiv-Artikel

Die Stars und das Obst

Einmal im Jahr ist in Berlin die Welt zu Gast. Die Luft flirrt vor Spannung, es ist ein emsiges Summen und Brummen. Aber nur wenige wissen, dass zurzeit nicht die Berlinale der Top-Event der Stadt ist, sondern die Fruit Logistica 2004

„Wie viele Einwohner hat Berlin?“, fragt mich der holländische Fahrgast auf dem Weg zum Hotel. Er blickt gebannt aus dem Fenster: überall bunte Lichter. „Weit über tausend“, antworte ich, er pfeift anerkennend.

Einmal im Jahr ist in Berlin die Welt zu Gast. Die Luft flirrt vor Spannung, es ist ein emsiges Summen und Brummen. Journalisten, Sternchen und Zaungäste sausen in Taxen geschäftig von einer Börse der Eitelkeiten zur nächsten, während Pseudo-Stars wie Nicky Kidman und Jude Law in letzter Minute absagen. Sollen sie doch, wir brauchen solche Leute nicht – ihre Ignoranz macht unser Berlin erst stark, diese Frontstadt, die schon weit dunklere Stunden gesehen hat und vor allem noch sehen wird.

Wichtigere Fragen beschäftigen die Menschen: Was sagt das ZDF? Beteiligt sich NRW an der Kinofassung? Wer oder was ist „NRW“? Auch mein Holländer ist ein Teil dieser Welt der Kontakte. „Jeden Tag zwischen 20- und 30.000 Besucher“, verkündet er stolz, „ein Riesending“: die Fruit Logistica 2004 in Berlin. Ich halte mich taktvoll zurück: Von einer „Fruit Logistica“ habe ich noch nie gehört, doch nichts läge mir ferner, als durch eine unachtsame Bemerkung das Lebenswerk des Obstmannes zu schmälern. Wir fahren gerade am hell erleuchteten Zoo-Palast vorbei. „Wenn die Berlinale nicht wäre, dann wäre die Fruit Logistica auf jeden Fall die klare Nummer eins“, tröste ich ihn.

Früher lief die Fruit Logistica immer am Rande der Grünen Woche, führt der Holländer aus. „Aha“, bemerke ich, nun sei mir natürlich klar, warum sie mir bis dato nur weit unter Wert aufgefallen sei, und lobe bis zum Fahrtziel die taktischen Winkelzüge der Obstexporteure: Die Fruit Logistica auszugliedern sowie die Berlinale künstlich aufzuplustern und zugleich unter das Dach der Fruchtmesse zu stellen, den unangemessenen Rummel der Kinofuzzis sowohl als Vehikel für die eigene Pressearbeit als auch als Schutzschild gegen übermäßig aufdringliches Interesse sachfremder Subjekte nutzend. Das Trinkgeld stimmt. Wenig später sitzt eine Produzentin bei mir und telefoniert: Was das ZDF sagt und dass NRW für irgendeinen Streifen nicht bezahlen will. „Auch wenn ihr diesen Film wahrscheinlich nicht sehen werdet, ihr Familienväter, Fettsäcke und Kinderschänder da draußen in euren Autos …“, schreibt der Tagesspiegel – vielleicht handelt es sich auch um einen anderen Film.

Wir sind am Ritz-Carlton angekommen. „Schauen Sie mal – die sieht doch klasse aus“, zieht mich die Frau unerwartet ins Vertrauen und zeigt auf eine andere, die soeben über den Teppich am Eingang läuft. In der Tat: ein hübsches Früchtchen. Allerdings schrecklich dünn. Ich halte längst nicht alle Verhaltensweisen von hoher ethnologischer Tradition für nachahmenswert und dazu gehört ganz sicher die (Selbst-)Verstümmelung aus einem grotesk stilisierten Schönheitsideal heraus. Bald werden wir solche Menschen züchten, wie Hunde oder Obst, im Grunde nicht wirklich lebensfähig. Ist es nicht ohnehin schon so weit und die Berlinale eine Art Fruit Logistica für Menschen? „Ja, aber der Hintern ist schön rund“, widerspricht die Pornofilmproduzentin. Ich mache mir grundsätzlich lieber meine eigenen Stielaugen und werfe ihr einen Blick zu, der sagen soll, dass ich das Gespräch missbillige, aber mir trotzdem nichts anmerken lasse.

Im Radio wird über den Verbleib von Nicky und Jude diskutiert – ich habe da ja so meine eigenen Theorien: Nicky hat bestimmt die Fruit Logistica vorgezogen und verteilt dort, als riesige Ananas verkleidet, Handzettel. Manchmal ist es angenehm für die Stars, nicht erkannt zu werden. Und Jude? Der kommt sowieso nicht mehr gerne nach Berlin, seit ihn dort mal ein Taxifahrer auf die Andeutung hin, er wirke bei dem Stalingradfilm mit, für einen Beleuchter hielt. Manchmal ist es unangenehm für die Stars, nicht erkannt zu werden, aber er war auch selber schuld – warum ist er nicht berühmter? Robert De Niro hätte ich erkannt. ULI HANNEMANN