: „Die Städte mit Poesie markieren“
In Zeiten geistiger Bedürftigkeit bietet die Poesie immer Schutz. Die junge Dichterin Minerva Reynosa, Gast des Festivals Latinale, hat zu diesem Spruch eine ganz besondere Beziehung, versucht sie doch Angst und Gewalt mit Versen zu begegnen
Die Latinale wurde vor drei Jahren von Rike Bolte und Timo Berger initiiert und ist ein mobiles Poesiefestival. Veranstalter ist das spanische Instituto Cervantes. Zwölf Dichterinnen und Dichter aus Lateinamerika machen Station in Bremen, Halle und Berlin. Bei der letzten Latinale reisten die Autoren noch in einem legendären Festival-Bus durch die Gegend – bis dann bei strömenden Regen plötzlich das Dach undicht wurde. Seitdem nimmt man mit der Bahn vorlieb. Am Samstag ab 16 Uhr ist „Markttag“ im Instituto Cervantes am Hackeschen Markt, Lektoren von alternativen Verlagen diskutieren über die Möglichkeiten eines intellektuellen Fairtrades in Lateinamerika und Europa.Die Latinale geht noch bis zum Wochenende.Programminfos unter latinale.blogsport.de SAS
INTERVIEW SASKIA VOGEL
taz: Frau Reynosa, Sie sind 29 Jahre alt, Gast auf der Latinale und Dichterin aus voller Überzeugung. Sie haben sogar einen Vers auf den Unterarm tätowiert, darf ich ihn mal sehen?
Minerva Reynosa: „In Zeiten der geistigen Bedürftigkeit bietet die Poesie immer Schutz.“ Lyrik ist elementar für mich.
Ökonomisch haben Literaten nicht immer einen leichten Stand. Wie ist die Situation in Mexiko?
Mexiko ist ein sehr paternalistisches Land, die kulturelle Produktion wird stark vom Staat gelenkt. Das mag negativ klingen, birgt jedoch den Vorteil, dass die öffentliche Hand gute Arbeitsbedingungen für Künstler schafft. Das Interesse an Poesie ist in Mexiko lebendig, das Publizieren in Zeitschriften leicht, die Auswahl an Festivals groß. Anders als in Europa hat in Mexiko das Vortragen von Wortlauten, die Oralität, eine große Tradition.
Können Sie denn als Dichterin Ihren Lebensunterhalt bestreiten?
Ich bin im Bundesstaat Nuevo León geboren, hier habe ich 2006 für mein Buch „Emötoma“ den „Carmen Alardín“-Poesiepreis gewonnen, der mit 4.000 Euro dotiert ist. Der Preis hat mein Selbstbewusstsein gestärkt, dass der Beruf „Dichterin“ genauso viel wert ist wie jeder andere Beruf und dass ich davon leben kann.
Wovon handelt „Emötoma“?
Von Emotionen natürlich. Chronische Depression, Liebe und Erotik. Jedes Jahr zur Latinale erscheint eine Anthologie mit den besten Gedichten der eingeladenen Autoren. Ich werde „Like a Ufo“ veröffentlichen, ein sehr abstraktes Gedicht, das laut vorgelesen einen beeindruckenden Wortklang entfaltet. Es handelt von der Gleichgültigkeit anderen gegenüber.
Nun ist Mexiko nicht nur ein Land der schönen Ästhetik, sondern auch der großen sozialen Probleme. In den Städten etwa herrscht ein hohes Maß an Kriminalität, wie gehen Sie als Dichterin damit um?
Im Bundesstaat Michoacán habe ich das Netzwerk „Die Angst ist Deine und die Straße gehört mir“ initiiert. Graffiti-Künstler und Dichter haben sich zusammengetan, wir wollen in Städten möglichst in ganz Mexiko poetische Marker setzen, also Verse an Hauswände sprühen. Eine Art poetische „Denkstopps“, an denen die Passanten mit ihrer Aufmerksamkeit hängen bleiben. Das Thema wird die alltägliche Angst und Kritik an der urbanen Gewalt sein.
Sie sprachen über Ihren Schreibstil, die suggestive Lyrik aus „Emötoma“. Wie lässt sich die schöne und gefühlvolle Poesie mit sozialkritischen „Denkstopps“ vereinen?
Meiner Meinung nach ist gesellschaftliche oder politische Kritik nicht unbedingt auf konkrete Statements angewiesen. Auch die „schöne Poesie“ ist immer ein reflexiver Moment des Autors über sein Verständnis der Welt und über seine Lebensverhältnisse. Ihre Ausdrucksstärke sollte respektiert werden. Um Missstände anzukreiden, benutze ich lieber das Stilmittel der Ironie, statt platte Parolen zu dichten. Durch Metaphern und die gebrochene Syntax meiner Verse wird der Leser nachhaltig irritiert, zum Nachdenken aufgefordert.
In Bezug auf die lateinamerikanische Kultur fällt oft der Begriff der „Hybridität“. Der Ausdruck wurde in den 1990er-Jahren vom argentinischen Kulturtheoretiker Nestor García Canclini geprägt und bezeichnet die Gleichzeitigkeit und Vermischung unterschiedlicher Realitäten. Können Sie aus mexikanischer Sicht darüber berichten?
Der lateinamerikanischen Kultur gemeinsam ist die Fähigkeit, fremde Beeinflussungen in sich aufzunehmen. Entsprechend ist auch die „mexicanidad“ eine hybride Mischung, ein Produkt der Überformung der indigenen Kultur durch spanische Einflüsse, die mit der Conquista ihren brutalen Anfang nahm. In Mexiko existieren Parallelwelten, es gibt noch traditionelle indigene Gemeinden, und nur wenige Kilometer weiter findet man modernste Shoppingcenter und Technologien.
Trägt die Globalisierung zu der „Hybridisierung“ bei?
Sicher, im Zuge der Globalisierung und der starken Migrationswellen kommen neue kulturelle Impulse aus Europa, Asien und vor allem aus den USA ins Land, auch gibt es in Mexiko viele afrikanischstämmige Migranten von den Antillen. Ich sehe den Prozess der Hybridisierung insofern positiv, als dass er viele künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten schafft, die Imagination verschiedener Welten ermöglicht. Ich denke, inmitten dieses Prozesses besteht die Hauptaufgabe der lateinamerikanischen Poesie darin, eine eigene Identität zu finden. Diese Identitätsfindung haben unsere Künstler lange vernachlässigt, es ging vornehmlich darum, die europäische „Hochkultur“ möglichst genau zu kopieren. Diese Phase ist aber jetzt vorbei.
Stichwort kulturelle Beeinflussung aus den USA: Die „Amerikanisierung“ wird vornehmlich als Hinwendung zur banalen Konsumkultur wahrgenommen und von vielen Mexikanern kritisiert.
Mexiko grenzt im Norden direkt an die USA, die kulturellen Impulse aus dem Nachbarland bedeuten aber nicht lediglich eine billige Kommerzialisierung der „mexicanidad“.
Sondern? Können Sie ein positives Beispiel nennen?
Gemeinsam mit Freunden organisiere ich jährlich ein Literaturfestival mit mexikanischen Autoren und Dichtern aus den mexikanischen „Reconquista“-Staaten in den USA, wie etwa Arizona. Hier gibt es riesige Migranten-Communitys, die dortigen Mexikaner werden als „Chicanos“ bezeichnet. Die Chicano-Dichter besinnen sich vor allem zurück auf den poetischen Klang des Spanischen, den sie im pragmatischen Englisch vermissen. Andererseits gibt es in den USA eine ausgeprägte „Spoken Word“-Tradition. Auf unserem Festival finden entsprechende Lesungen in Spanglish statt, also in einer neu entstandenen Mischsprache aus Spanisch und Englisch. Durch den kulturellen Austausch zwischen den USA und meinem Land entstehen also neue, und durchaus bereichernde Formen des künstlerischen Ausdrucks.
Minerva Reynosa, geboren 1979 in Monterrey, studierte spanische Literatur und promoviert gerade über den spanisch-mexikanischen Autor Gerardo Deniz. Neben „Emötoma“ veröffentlichte sie „Una infanta necia“ (2003) sowie zahlreiche Beiträge in Anthologien.