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Archiv-Artikel

Das Informationsfenster

So ziemlich im Zentrum von Bagdad: Die Annahme, dass eine Information eine Bedeutung hat, weil ihr ein reales Ereignis entspricht, gilt keineswegs in jedem Fall. Über den Krieg und seine Nachrichten

Strikt voneinander getrennt: der Krieg als Ereignis und der Krieg als NachrichtDie Nachrichten des Krieges sollen nicht seine Ereignisse wiedergeben

von STEFAN HEIDENREICH

Der Krieg nähert sich zum Glück rasch seinem Ende, aber schon ahnt man, welche Art von „Friedensprozess“ ihm folgen könnte. Bereits am Samstag sah es für einen Moment so aus, als würden sich weitere Kämpfe erübrigen. Eine amerikanische Einheit befindet sich im Zentrum – „in the very heart“ – von Bagdad, hieß es im amerikanischen Kommandozentrum. Der Sender BBC schaltet live zum Korrespondenten Rageeh Omar in die Stadt. Mit den Worten: „Ich befinde mich so ziemlich im Zentrum von Bagdad“, beginnt er seinen Bericht. Hinter ihm zeigt die Kamera einen Kreisverkehr, ein paar Autos und einige Fußgänger auf der anderen Seite des Platzes. Die Panzer der US-Armee sind weder zu sehen noch zu hören.

Man erwartet die unverzügliche Aufklärung des Widerspruchs. Aber wie? Werden die amerikanischen Truppen im nächsten Moment hinter Omars Rücken auf den Platz preschen? Oder haben sie sich verfahren? Oder findet der Krieg – um eine unkonventionellere Lösung zu bedenken – in zwei Welten statt: in einem Bagdad, aus dessen Zentrum BBC berichtet, und in einem anderen Bagdad, das bereits besetzt ist? Bevor sich Stunden später klärt, welchen Weg die Amerikaner durch einige Vororte genommen haben, begegnen sich Behauptung und Widerrede ein weiteres Mal auf einem anderen, nahe gelegenen Schauplatz.

Während der irakische Minister Mohammed Said al-Sahhaf noch behauptet, der Flughafen befinde sich schon wieder in irakischer Hand, zeigt CNN Bilder von amerikanischen Soldaten in Saddam Husseins privater Airport-Lounge. Sie filmen die vergoldeten Waschbecken und die grauen Filzpuschen des Diktators. Die Frontlinien der Information haben sich an diesem Tag durchdrungen, ohne dass es zu einer Entscheidung gekommen wäre. Wie zwei Wellen begegnen sich die Nachrichten, schwappen hoch, schlagen zurück und rollen weiter. Von nun an berichten beide Seiten aus verschiedenen Ländern, bis eine aufhört zu senden.

Dass im Krieg die Wahrheit als Erstes geopfert wird, ist eine Binsenweisheit. Aber eine Wahrheit ist es, dass Binsenweisheiten eben nur Binsenweisheiten sind. Würde der Krieg in seiner ganzen Wahrheit und Präsenz die heimischen Wohnzimmer erreichen, könnte man ihn nicht führen. Kein Berichterstatter wagt es, der Wahrheit des Krieges zu nahe zu treten. Deshalb sind zwei Dinge strikt voneinander getrennt: der Krieg als Ereignis und der Krieg als Nachricht. Nur aus Versehen kommen sich beide nahe, wie am Sonntag, als der BBC-Reporter John Simpson in einem Konvoi unter amerikanisches Feuer kam. Ein Tropfen Blut spitzte auf die Linse, der Kameramann versuchte ihn wegzuwischen, die Kamera fiel in Gras, durch die Blutschlieren sah man brennende Autos und Deckung suchende Menschen. Die Opfer „freundlichen Feuers“ finden aus Versehen den Weg auf dem Bildschirm, aber die Bilder der viel häufigeren Opfer feindlichen Feuers werden ganz ausgeblendet.

Die Nachrichten des Krieges haben nicht die Aufgabe, Ereignisse wiederzugeben. Im Krieg bestimmt die jeweilige Lage das, was gesagt und gezeigt wird. Jede Lage erzeugt ein Fenster möglicher Informationen. Wer die Oberhand hat, kann es sich leisten, mehr auszusprechen. Wenn die Sache schlecht steht, gibt es nichts Neues zu melden. Weil aber Nachrichtenagenturen, Fernsehsender und Berichterstatter einen kontinuierlichen Strom von Information erwarten, droht in diesem Fall die Lage außer Kontrolle zu geraten. Die Militärs gehen dazu über, Ereignisse zu erfinden oder zu inszenieren, um einen Kollaps an der Front der Information zu verhindern.

Vor zehn Tagen stockte der britische Vormarsch auf Basra. Prompt wurde der Zufluss an Information kritisch. Überhitzte Fantasien fanden den Weg in die Nachrichtenkanäle. Umm Kasr, eine kleine Hafenstadt hinter der Grenze, wurde wieder und wieder eingenommen. Man sprach vom ständigen Vormarsch auf Basra und zeigte dazu Bilder, die keine Gebäude, nicht einmal die Silhouette einer Stadt, sondern Wassergräben, Sumpf und Wüste zeigten. Der obskurste Vorfall ereignete sich in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Die schon bekannte Szenerie der Blitzlichter unter dem durch die Optik der Nachtsichtgeräte grün gefärbten Himmel wurde von nahezu hysterischen Kommentaren begleitet. 120 irakische Panzer seien in einer Selbstmordattacke aus der Stadt Basra ausgebrochen. Wenn man lange in die Dunkelheit hinausstarrt, zeichnen sich vor den Augen schemenhafte Bewegungen und Figuren ab. Es muss sich bei diesem Ereignis um eine solche selbst induzierte Halluzination gehandelt haben. Der Kollaps des Nachrichtenflusses schlug in dieser Nacht bis an die Front durch. Die Zahl 120 wurde am nächsten Tag auf zwanzig gestutzt, und am übernächsten Tag räumte der britische Verteidigungsminister Geoffrey Hoon ein, es habe sich gerade einmal um drei irakische Panzer gehandelt. Es stand nicht gut um die britischen Streitkräfte. Auch die Amerikaner sahen sich genötigt, inmitten der Stockungen des Sandsturms Nachrichten zu produzieren, wo es keine gab. Sie inszenierten einen dramatischen Fallschirmspringereinsatz über einem Flugfeld im Nordirak. Die Kameras waren schon zur Stelle, denn das Ereignis spielte sich nicht etwa über feindlichem Gebiet ab, sondern in der kurdisch kontrollierten Zone. Erstaunt vermerkte ein Reporter, dass nur ein kleiner Teil der Truppen in der Luft absprangen und die übrigen Militärtransporter auf der intakten Rollbahn landeten.

Die Nachrichten vom Krieg sind nicht einfach nur falsch. Zwar stehen sie zu der so genannten Wahrheit in einem prekären Verhältnis, aber dafür in einem umso exakteren zur jeweiligen Lage.

An der Börse trifft man eine vergleichbare Verquickung von Information und Situation. Man tut so, als ob Ereignisse berichtet werden, die sich in den Kursen aktuell abbilden. Tatsächlich sind die Informationen, wenn sie erst bekannt werden, schon immer eingepreist. Die Börsenberichte, die allabendlich im Ton von Sportreportagen vorgetragen werden, sind unwahr auf der Basis der Zeit. Die Nachrichten vom Krieg sind unwahr auf der Basis der Lage. Die entscheidende Frage, wenn es darum geht, etwas mitzuteilen, lautet nicht: Was hat sich ereignet? Sie heißt: Was ist zu sagen?

Man kann vier Arten von Nachrichten unterscheiden: unbedingte, unterbundene, ungünstige und günstige. Im günstigen Fall erzeugt eine Lage genügend gute Neuigkeiten. Ungünstige Nachrichten müssen gemeldet werden, falls es nicht gelingt, sie mit akzeptablem Aufwand zu unterbinden. Unbedingte Nachrichten sind solche, die unter allen Umständen zu melden sind. Dazu gehörte etwa die wiederholte Meldung, dass der Hafen Umm Kasr, wenige Kilometer hinter der kuwaitischen Grenze, eingenommen worden sei. Oder auch die Nachricht über einen Volksaufstand in Basra. Zu den unterschlagenen Nachrichten zählt die, dass es eine operative Pause beim Vormarsch gäbe. Auch die Nachricht, dass am ersten Tag des Krieges zwei britische Hubschrauber von Feinden abgeschossen wurden, kann nicht gemeldet werden.

Ein Indiz beim Lesen der Nachrichten besteht in der Wortwahl. Nach Stalingrad lernten die deutschen Radiohörer sehr schnell, was mit dem Wort „Frontbegradigung“ gemeint war. Gregor Sinaisky behauptete in der Asia Times vom 2. April, ein einfaches Indiz für die Unterscheidung zwischen wahr und falsch ausgemacht zu haben – ein Indiz, das im Übrigen aus den „Wie schreibe ich einen Roman“-Kursen der „creative writing“-Seminare nur allzu gut bekannt ist. Wenn etwas nur ungefähr angegeben wird, wenn man nicht genau sagt, von wem die Nachricht stammt, dann ist sie wahrscheinlich falsch. Wahre Informationen zeichnen sich dagegen durch Detailreichtum aus. Wenn dem so wäre, dann dürfte eine russische Netzseite den allerhöchsten Grad an Wahrheit für sich beanspruchen. Unter der Adresse www.iraqwar.ru erscheint täglich ein Lagebericht, der vor Details nur so strotzt. Es heißt, die Berichte würden von einer Gruppe von Nachrichtendienstlern und Journalisten im Umfeld des russischen Geheimdienstes GRU verfasst. Als Quelle geben die Berichte den mitgehörten Funkverkehr der US-Armee an. Sie zitieren sogar aus einzelnen Gesprächen. Die englische Übersetzung des russische Bulletins erscheint auf der Seite www.aeronautics.ru. Im Verlauf des Krieges steigt dort die Anzahl der Zugriffe so stark an, dass die Seite nur noch in einer grafisch abgespeckten „wartime edition“ erscheint. Die russische Beschreibung der Lage stimmt mit dem, was andere Quellen an Rückschlüssen zulassen, im Großen und Ganzen überein. Unterschiede bestehen vor allem in den um etwa das Doppelte erhöhten Verlusten der Koalition sowie in manchen überraschenden Details. So meldeten die Berichte während der ersten Kriegstage den Verlust zweier britischer Helikopter. Später vermerkte die russische Seite es als eigenartige Koinzidenz, dass die Briten diesen Verlust nicht erwähnten, dafür aber über einen Zusammenstoß zweier Hubschrauber berichteten. Was auch immer den Hubschraubern zugestoßen sein mag: Die Meldung, am ersten Kriegstag zwei Helikopter zu verlieren, lag mit Sicherheit außerhalb des „Informationsfensters“ der britischen Streitkräfte.

In den seriösen Nachrichten und in der seriösen Presse ist von solchen obskuren Quellen keine Rede. Die Mainstream-Medien beschränken sich auch dann noch auf die Quellen der kriegsführenden Kräfte, wenn es andere durchaus seriöse Berichte gibt. Ein Beispiel: Aam letzten Wochenende sind die Briten nach ihren eigenen Angaben in das Dorf Abu al-Khasib südlich von Basra vorgerückt und haben dort einen schwer erkämpften Sieg errungen. Der russische Kriegsbericht spricht von einem vergeblichen britischen Vorstoß und darauf folgendem Rückzug. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass geografisch gesehen durchaus nahe liegt, eine dritte Quelle heranzuziehen. Das umkämpfte Dorf liegt am Grenzfluss zum Iran. Was sich während der britischen Offensive ereignet, kann den iranischen Beobachtern auf der anderen Seite des Flusses nicht verborgen bleiben. Die offiziellen Nachrichten, deutsche wie britische, erwähnen es nicht einmal, dass die Nachrichtenagentur Irna zu diesen Kämpfen am 31. März um 17.59 Uhr eine Meldung herausgegeben hat. Sie ist unter www.irna.com öffentlich zugänglich. „Von schwerer Artillerie und Helikopter-Operationen unterstützt, gelang es britischen Kräften die zwei Tigris-Brücken bei Zobeir und Khaled zu überqueren. Sie erreichten vor etwa einer Stunde die Mauern von Basra, mussten aber nach Gegenangriffen der irakischen Verteidiger wieder zurückweichen und haben sich in die Gegend von Abu al-Khasib südlich von Basra zurückgezogen.“ Was die Briten als Sieg darstellten, beschreiben die iranischen Beobachter als Rückzug. Das Informationsfenster der Briten lässt keinen Rückzug zu. Warum wird die Irna-Meldung in deutschen Fernsehstationen nicht einmal erwähnt?

Dass es die Recherche über Details des Krieges an Aufmerksamkeit fehlen lässt und dass es selten gelingt, ein überschaubares Bild der Lage zu vermitteln, wird durch die vielen Berichte der „eingebetteten“ Journalisten nicht entschärft, sondern noch verschlimmert. Zum so genannten „Nebel des Krieges“ tragen sie ihren Teil bei. Ihre Bilder gleichen sich und müssen sich gleichen. Denn sie berichten stets dieselben Ereignisse. Ein Panzer. Gestalten am Straßenrand. Ein Auto. Schüsse. Eine Wasserflasche. Die Bilder lassen sich erst dann in das Geschehen einfügen, wenn sie kommentiert und zugeordnet sind. Ohne Plot und ohne Kontext können sie nicht mehr als namenlose Schrecken zeigen, und davor schrecken sie zurück. Das Übrige tun Kontrollinstanzen, die sich der gleichförmigen Bildermengen bedienen, um damit wie auf einer Klaviatur der Nachrichten zu spielen und die Bedürfnisse ihres „Informationsfensters“ zu versorgen.

Ein Grundirrtum über die Nachrichten des Krieges liegt in der Annahme, dass eine Information eine Bedeutung hat, dass ihr ein reales Ereignis entsprechen soll. Das ist im Krieg zweitrangig.

Am Samstag haben sich zwei Wellen von Informationen gekreuzt. Die Informationsfenster der Seiten haben die Fronten gewechselt. Nun können beide Seiten kaum noch über dasselbe Ereignis berichten. Kommt die Offensive der Amerikaner vor Bagdad ins Stocken, so werden sie sich ebenso wie die Briten dazu gezwungen sehen, Erfolge zu fantasieren. Umgekehrt werden sich die Meldungen der Iraker zusehends schriller anhören, bevor ihre Sendung aufhört. Wenn die Truppen der Koalition am Ende das ganze Land unter Kontrolle haben, könnte sich eine der Aussagen des irakischen Informationsministers als überraschend gültig herausstellen. „Sie sind nirgends!“, rief er aus, als die Panzer der Briten und Amerikaner schon tief im Land auf Bagdad zurollten. Auf lange Sicht wird er Recht behalten.