: Der Makel Hilflosigkeit
Die Pflegeversicherung muss neu finanziert werden, sonst verliert sie ihren sozialen Sinn: Nämlich auch denjenigen, die Hilfe benötigen, ein Alter in Würde zu garantieren
Gleichgültige oder aggressive Mitarbeiter, betagte Pflegebedürftige, die in klebrigen und urinverschmutzten Betten dahindämmern, zusammengepfercht in den kargen Mehrbettzimmern. Solche skandalösen Zustände in einigen Pflegeheimen gibt es schon jetzt, und sie drohen künftig noch mehr verarmten Pflegebedürftigen, wenn es bei dem von Gerhard Schröder durchgesetzten Stopp einer Einnahmenreform der Pflegeversicherung bleibt.
Ursprünglich sah das rot-grüne Reformkonzept neben happigen Leistungskürzungen vor, dass Nichterziehende monatlich 2,50 Euro extra zahlen. So wollte man die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Anerkennung von Erziehungsleistungen in den sozialen Sicherungssystemen umsetzen und mit den Mehreinnahmen die Pflege verbessern. Nun will man Erziehende beim Pflegebeitrag entlasten, ohne Nichterziehende zu belasten. Einnahmen und Ausgaben bei der Pflege klaffen dann noch stärker auseinander. Zumal Rot-Grün sich auch für zusätzliche Ausgaben bei altersverwirrten Senioren und zur Förderung neuer Pflegeformen einsetzt. Für die Betroffenen wäre das sinnvoll. Doch eine Politik, die einen Leistungsausbau verspricht, ohne sich um Finanzierungsprobleme zu kümmern, fährt die Pflegeversicherung an die Wand: Weil die Beiträge dort gesetzlich gedeckelt sind, können Mehrausgaben nur durch Abbau von Pflegeleistungen finanziert werden. Will man beispielsweise Pflegekräfte nicht vollständig von der allgemeinen Lohnentwicklung abkoppeln, werden Pflegebedürftige in zwanzig Jahren nur rund die Hälfte der aktuellen Pflegeleistungen beanspruchen können, obwohl sie dann, im Unterschied zu heutigen Rentnergeneration, dauerhaft Pflegebeiträge entrichtet haben. 2003 erwirtschaftete die Pflegeversicherung bereits ein Rekorddefizit von 650 Millionen Euro. Ohne Reformen steht sie ab 2007 vor einem Finanzierungskollaps.
Eine große Zahl Pflegebedürftiger wäre dann von Sozialhilfe abhängig. Dies klingt undramatisch, weil es der Situation vor Einführung der Pflegeversicherung entspräche. Und warum soll man die Sozialhilfe nicht als jenes Leistungsgesetz für Pflegebedürftige begreifen, dass heute auch unter Linken als ernsthafte Alternative zur Pflegeversicherung gilt? Doch tatsächlich würde eine zu Pflegeleistungen umfunktionalisierte Sozialhilfe Pflegebedürftige stigmatisieren. Denn Pflegebedürftigkeit im Alter oder im Gefolge einer chronischen Erkrankung oder Behinderung ist kein Risiko mehr, das jeden mit gleicher Wahrscheinlichkeit trifft. Zwar gelingt der Medizin bei Volkskrankheiten wie Diabetes oder Krebs keine Heilung. Aber neue Behandlungstechniken und Langzeittherapien versprechen Kranken hohe Lebenserwartungen ohne Hilfsbedürftigkeit.
Die vielfach als Folge höherer Lebenserwartung prognostizierte Herausbildung eines neuen, pauschal durch Altersverwirrtheit, Siechtum und lang andauernden Verfall geprägten „vierten Lebensalters“ der über 80-Jährigen ist daher unpräzise. Schon heute werden viele Oberschichtangehörige ohne Siechtum neunzig Jahre und älter. Am Ende ihres gelebten Lebens steht ein Sterbeprozess, der sich auf wenige Wochen oder Monate beschränkt. Wer persönlich und finanziell in der Lage ist, sein Leben nach den Drehbüchern der Hochleistungsmedizin zur organisieren, ist seltener pflegebedürftig. Ebenso wie ein Zusammenhang zwischen chronischen Erkrankungen, wie Diabetes oder manchen Krebserkrankungen, und dem sozialem Status erwiesen ist, wird künftig auch eine Pflegebedürftigkeit aufgrund chronischer Erkrankungen oder Behinderungen gehäuft in den Unterschichten auftreten. Arme sind nicht nur häufiger krank, ihre Krankheiten führen auch häufiger zu einem lang andauernden Siechtum ohne Hoffnung auf Genesung. Pflegebedürftigkeit wird zum „Proletenleiden“, das vermehrt als selbst verschuldet gilt. Als Pflegefall zu enden erscheint als moralischer Makel. Längst schämen sich die meisten Betroffenen weniger für ihre Schwäche als dafür, anderen zur Last zu fallen. Als Kehrseite eines Kollapses der Pflege wird deshalb die Forderung nach aktiver Sterbehilfe an Resonanz gewinnen. Untersuchungen aus den Niederlanden belegen, dass der Wunsch, keine Last mehr für andere zu sein, eines der wichtigsten Motive für die dort legale Euthanasie bildet.
Unstrittig ist die Pflege jener Zweig der Sozialversicherung, der am stärksten von der gesellschaftlichen Alterung betroffen ist. Allerdings folgt dieser Zusammenhang keinem Naturgesetz, sondern ist Resultat sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Entscheidungen: Nur wenn die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit weiterhin kein vorrangiges Ziel der Gesundheitspolitik darstellt, wird künftig eine höhere Lebenserwartung mit einer deutlich vermehrten Pflegebedürftigkeit einhergehen und die Zahl der Gepflegten in den nächsten 25 Jahren von 1,9 Millionen auf 3,1 Millionen Menschen ansteigen. Nur dann wird das „vierte Lebensalter“ randständiger Senioren schroff dem dritten Lebensabschnitt einer Mehrheit „junger Alter“ gegenüberstehen, die rüstig ihre späte Freiheit auskosten. Dies macht das Paradox verständlich, dass just in einer alternden Gesellschaft die Diskriminierung Betagter fröhliche Urständ feiern wird. Neben den auf Großvaters Erbe hoffenden Jungen werden besonders die jungen Alten sich einer Finanzierung angemessener Pflege verweigern. Erinnert Pflegebedürftigkeit sie doch nicht nur an soziale Verwerfungen, sondern auch an die verdrängte eigene Endlichkeit.
In diesen sozialpsychologischen Kontext ist eine Reformdiskussion der Pflege eingebettet. Private Versicherungen schützen jene verarmten und randständigen Bevölkerungsgruppen nicht, die am stärksten des Schutzes bedürfen. Ein Pflegeleistungsgesetz, das einkommens- und vermögensorientiert bedürftigen Bürgern notwendige Pflegeleistungen zuspricht, bietet hingegen nur in der Theorie ärmeren Bevölkerungsgruppen eine Alternative.
Faktisch ist ein steuerfinanziertes Pflegeleistungsgesetz angesichts hoher Haushaltsdefizite unwahrscheinlich und politisch kaum durchsetzbar, weil es mit der Beschneidung von Ansprüchen einer Mehrheit verbunden wäre, die gleichwohl als Zahlmeister auftreten müsste. Aussichtsreich sind nur Reformen innerhalb der sozialen Pflegeversicherung.
Hier spricht alles für die Einbeziehung aller Erwerbspersonen und von Nichtarbeitseinkommen wie beim Konzept der Bürgerversicherung. Fair ist dann auch die vom Bundesverfassungsgericht geforderte stärkere Beitragsbelastung Nichterziehender: Schließlich sind künftige Pflegebedürftige auf Beiträge der Nachwuchsgeneration angewiesen, für deren Erziehung allein Eltern Konsumverzicht üben.
Ohne einen solchen Umbau wird die Pflegeversicherung schon in den nächsten Jahren ihren sozialen Sinn verlieren, ein Minimum menschenwürdiger Pflege für alle zu garantieren.
HARRY KUNZ