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Archiv-Artikel

robin alexander über Schicksal So zärtlich ist die Hundetherapeutin

Eine Narkose-Erfahrung ist trotz Krankenversicherung unbezahlbar. Man muss sie sich verdienen

Wenn Sie diesen Text lesen, bin ich schon im Nirwana. Ganz bestimmt: Eine Vollnarkose ist eine sehr zuverlässige Droge. Anders als bei Haschisch kenne ich bei Narkosen niemanden, der nicht wirklich etwas gemerkt hat und die Wirkung nur vorspielte, um cool zu sein. Erste Erfahrungen machte ich schon mit fünf Jahren bei einer Polypen-Operation. Noch heute erinnere ich mich an eine Traumszene kurz vor meinem Erwachen nach der OP.

Wie bei allen wirklich schönen Dingen im Leben spielt Geld auch hier keine Rolle. Narkosen sind zuzahlungsfrei. Man muss dieses Erlebnis nicht bezahlen, sondern verdienen. „Ich werde Sie operieren, wenn Sie Ihr Bein wieder strecken können“, hatte der Arzt gesagt. Menschen, die ihr Handwerk verstehen, erkennt man an ihren klaren Ansagen: „Sie haben jetzt Streckung minus zehn. Bis zur Operation brauchen Sie Streckung Minus null. Ich fahre sowieso in Urlaub, also haben Sie drei Wochen Zeit.“ Die Zahlen sind Angaben in Grad. Null entspricht einem gesund gestreckten Bein. Geometrie habe ich schon in der Schule nicht gemocht. Von minus zehn auf null in drei Wochen. Das ist vom Gefühl her das genaue Gegenteil von null auf hundert in acht Sekunden. Womit habe ich das nur verdient? Mit Fußballspielen.

Von Freizeitkickern hält Sascha nichts. Vielleicht hat es damit zu tun, dass er früher die Knie von verletzten Moskauer Eishockeyprofis in Ordnung brachte. In Deutschland wird Sascha besser bezahlt, dafür muss er sich mit Luschen wie mir abgeben. Die Arbeitsgrundlage zwischen meinem russischen Physiotherapeuten und mir wird schon in der ersten Therapiestunde definiert: „Sport ihsst nicht daine Welt!“

Motivation ist nicht Saschas Stärke, aber die mächtige Sowjetunion hat ihre Spitzensportler gut betreut: Schon in der zweiten Sitzung schafft es Sascha, mein Bein bis „minus acht“ zu zerren.

Die eigentliche Arbeit liegt allerdings bei mir. Ein Dutzend Übungen muss ich, der ich bis dahin kaum auftreten kann, nun täglich ausführen. Sie lassen sich alle unter ein Motto Saschas stellen: „Immarr bis ahn Schmärzgränze!“

Wenn ich nicht bei Sascha trainiere, dann strecke, beuge, belaste, ziehe ich zu Hause vor dem Fernseher. Im Fernsehen war in den vergangenen Wochen ganz schön was los. Ich kenne jetzt alle Reporter von BBC und CNN, die Topografie des Irak ist mir präsenter als die Deutschlands. Dass Rumsfeld seinen Krieg nicht ganz so blitzartig abschließen konnte, wie es zunächst aussah, kam mir sehr gelegen. Nicht, weil ich Saddam den Sieg gewünscht hätte. Ich hatte mit mir selbst gewettet, bei „minus fünf“ zu sein, bevor Basra fällt.

Viele Menschen erzählen, übermäßiges Anschauen der Kriegsberichterstattung belaste sie. Ich muss zugeben: Auf meine Psyche und meinen Heilungsprozess wirkt nur mein eigenes Leben. Ruft jemand an und bestellt einen „schönen Text, den du mir von zu Hause schreiben kannst“, komme ich auf „minus drei“, obwohl ich weniger Zeit zum Trainieren hatte. Berichtet mir ein Kollege beim Krankenbesuch von fiesen Schurkereien am Arbeitsplatz, gibt es einen Tag lang keinen messbaren Fortschritt.

Bei „minus eins“ gönne ich mir und meinen zwei unterarmgestützten Gehhilfen einen Wochenendausflug. Auf der Zugfahrt sitzt mir eine Mittdreißigerin mit Brille gegenüber. Ungefragt bietet sie mir an, mein Bein auf eine Ecke ihres Sitzes zu legen, und spricht fachfrauisch über Knieverletzungen. Warum kennt sie sich so gut aus? „Ich bin Physiotherapeutin – für Hunde.“ Für Hunde? „Ja, aber das ist im Grunde das Gleiche wie beim Menschen: Hunde haben auch Kreuzband- und Miniskusrisse. Nur sind sie nicht krankenversichert.“ Und wie trainieren Hunde die Streckung ihrer verletzten Beine? „So.“ Die Hundephysiotherapeutin zieht mit der flachen Hand an meiner Ferse, beugt sich über mein Bein und drückt links auf meinen Oberschenkel direkt über der Kniescheibe – sehr, sehr langsam.

Ich bin plötzlich dankbar, dass die modernen ICEs so gute Stoßdämpfer haben. Die Hundephysiotherapeutin drückt immer weiter. Nach ewig dauernden Minuten ist mein Bein so gerade wie seit meiner Verletzung nicht mehr. „Bin ich jetzt in der vollen Streckung?“, frage ich erwartungsvoll. „Nein, jetzt bist du schon in der Überstreckung. Wann sollst du operiert werden?“

„Am Freitag. Danach bekomme ich wieder Reha. Muss ich dann eigentlich wieder bei null anfangen?“ Die Hundephysiotherapeutin lächelt süß. „Nein, nicht bei null“, sie drückt das Knie noch eine Winzigkeit tiefer. „Wieder bei minus zehn.“

Fragen zur Narkose? kolumne@taz.de