: Wahrscheinlich Gefangene
Eine Besetzung der Körper mit Sinn findet nicht statt: Christoph Winklers neues Tanzstück „Homo Sacer“ in den Sophiensælen befreit Bewegung von Besetzungen
Man möchte sie anfangs nur bewundern, diese gewandten und beredten Körper. Christoph Winklers neues Tanzstück „Homo Sacer“ beginnt wie ein Morgen: Nach und nach steigen die acht Tänzer und Tänzerinnen herab von den Türmen und Gerüsten, in denen sie in engen Waben lagen, und füllen den offenen Raum der Bühne mit intensiven Bewegungsmonologen. Auf verschlungenen Wegen schlängeln sich die Impulse und Energieströme durch ihre Körper. Am Ende jeder Bewegungssequenz fallen sie zusammen wie eine Hülle, in der für kurze Zeit nur divergierende Kräfte zusammengeflossen waren und nun wieder über diesen Ort hinausgeströmt sind. Was sie tanzen, scheint weniger Ausdruck denn ein ständiges Austesten der Möglichkeiten, wohin dieses Wenden und Pendeln, der Energiefluss und seine Unterbrechung noch führen können.
Das ist eine offene und sehr komplexe Struktur, die eher an ein abstraktes tachistisches Gemälde erinnert, ein Fleckenteppich aus unterschiedlichen Aggregat- und Spannungszuständen, denn an eine Erzählung von Einschluss und Ausschluss. Das aber will das Tanzstück „Homo Sacer“ auch sein, wie schon der Titel andeutet, der von einem Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben stammt, oder das ausgebleichte Foto eines Lagers, wahrscheinlich für Kriegsgefangene, auf dem Programmheft und den Postkarten, die für das Stück werben.
So wird der Tanz unterbrochen von Texten, die die Suche nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung vermitteln. Der Vortragston ist nüchtern; eine Vermittlung von Fakten, die das Erschrecken dem Zuhörer überlässt. Der eine Text stammt von Kafka, die Erzählung „Vor dem Gesetz“: Sie beschreibt ein Leben, das über dem Warten vergeht, Zugang zum Gesetz zu erhalten. Der zweite Text ist das Protokoll einer Zeugenaussage vor dem Internationalen Gerichtshof in einem Kriegsverbrecherprozess. Er beschreibt jenen für die Kriege unserer Zeit symptomatischen Zustand des Verlusts aller Rechte, den Agamben mit der Figur des Homos Sacer fasste.
Wie aber kommen die beiden Ebenen des Tanzes und des Textes zusammen? Christoph Winkler ist keiner, der illustrativ arbeitet, zum Glück. Nie behauptet er, dass Bewegung Bedeutung hat, im Gegenteil: Sie von allen Besetzungen zu befreien oder die Herkunft von Belegungen zu markieren, hat er über viele Stücke verfolgt. Dennoch ist die befreite Bewegung keine, die in einem Vakuum von Ideologie stattfinden könnte. Kunst ereignet sich immer in einem Raum, der schon mit Erwartungen und Bedeutungen besetzt ist. Dieses Paradox beschäftigt Winkler. In „Homo Sacer“, wie schon in Stücken zuvor, geht er in die Offensive, Form und Inhalt nebeneinander zu setzen, ohne das eine für das andere zu benutzen. Das ist ein Anliegen, das einem ständig den Boden der Interpretation entzieht. Ein sprödes Konzept, das nie aufgehen kann; deshalb kann man das Unverbundene der Elemente nicht als Misslingen beschreiben, weil eine Verbindung gar nicht behauptet wird. „Der Tanz beginnt immer da, wo Gedanken enden. Er bedeutet nichts, doch im tanzenden Menschen vereinigen sich alle Bedeutungen“, so stützt das Programmheft es ab.
Im Verlauf der sechzig Minuten entwickelt sich die Choreografie zu einem beeindruckenden Geflecht; wie sich Kombinationen, Ketten der Körper und Gruppen bilden, wie Verdichtung und Vereinzelung stattfindet, wie Raum genommen und wieder freigegeben wird. Die Texte steuern gegen die Wand, auf eine Ausweglosigkeit zu, die auf die Fortsetzung der Bewegung warten lässt, auf dieses geschmeidige Gleiten. Ob man dies politisches Tanztheater nennen kann, bleibt fraglich. Eher Tanz im Angesicht einer Politik, die man nicht ausblenden will.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Bis 15. und 18. bis 22. Februar, 20 Uhr, in den Sophiensælen, Sophienstr. 18