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Archiv-Artikel

Azzurro

Sie lag am Strand von Porto Palo. Aus der Bar hinter ihr dröhnte der alte Ohrwurm von Adriano Celentano. Eine Urlaubsliebesgeschichte mit weitreichenden Folgen und Zukunft

VON REGINA MASARACCHIA

Lustvoll streckte sich Tabea und ließ den weißen, feinen Sand langsam durch ihre Finger rieseln. Wie eine Sanduhr dachte sie und seufzte! ENDLICH! Endlich! Wie lange hatte sie auf diesen Urlaub gewartet!

Im Büro die Monate, Wochen, Stunden gezählt, besonders wenn sie in der Berliner U-Bahn saß, irgendwo zwischen Tempelhof und Kurfürsten Damm! Wie sehr sie den Geruch dort hasste, all die Menschen, eingepfercht in den immer vollen Zügen, draußen ewig graues Schmuddelwetter, selbst im Sommer waren die Sonnentage selten.

Nun lag sie hier am Strand von Porto Palo auf Sizilien und tankte Sonne auf, die sie für das Überleben in der Berliner Großstadt und die kommenden Wintermonate nötig hatte.

Mein Gott, was würde sie darum geben, hier wohnen zu können – das ganze Jahr über, wie ihre Cousine Marina, die hier ihren Mann kennen gelernt und die Brücken nach Deutschland abgebrochen hatte.

Aus der Bar hinter ihr dröhnte der alte Ohrwurm von Adriano Celentano, „Azzurro“. Sehnsuchtsvoll ließ Tabea ihren Blick zu Marina schweifen, die sich konzentriert mit Sonnenmilch einschmierte und dann vorwurfsvoll zu ihrem Mann Salvatore schaute, der mal wieder allzu auffällig fremden Oberweiten hinterhergaffte und froh gelaunt mit der sonoren Stimme Celentanos mitsang: „Azzurro, il pomeriggio è troppo azzurro è lungo per me. Mi accorgo di non avere più risorse senza di te!“

Was für ein Mann, stöhnte Tabea. Braun gebrannt, mit Knackarsch und Bizeps! Schwarze Locken, feurige Augen, göttlicher Mund, genauso, wie man sich einen Latinlover vorzustellen hatte! Marina ist ein echtes Glückskind! Sie hatten zwar nicht viel Geld und lebten mit ihren Schwiegereltern zusammen in einem kleinen Häuschen am Ortsrand, aber was war schon der schnöde Mammon gegen Liebe, Lust und dem Meer direkt vor der Tür!

„Ah azzurro …!“, entglitt es Tabea, und Salvatore zwinkerte ihr unauffällig zu. „Soll ich dir den Rücken eincremen?“, wandte sich Salvatore schnell an Marina und rollte das „r“ so sexy, dass Tabea unter der glühenden Sonne dahinschmolz wie ein rotes Wassereis.

„Ja, bitte, amore mio!“, säuselte Marina und warf ihrem Mann einen dankbaren Blick zu.

„Mir bitte auch!“, flirtete Tabea, und Salvatore beugte sich ohne zu zögern auch zu ihr und massierte mit sanften Bewegungen die Sonnencreme auf ihre Haut. Vorsicht: Orgasmusgefahr, dachte Tabea und musste sich zusammennehmen, um nicht ein bisschen dabei zu stöhnen. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und sich an seinen Waschbrettbauch geschmissen!

Wie gemein ich bin! Auch nur daran zu denken! Mit dem Mann meiner Cousine! Aber bei der Hitze können einem schon mal die Gedanken entgleiten und die Moral auf der Strecke bleiben! Aus den Augenwinkeln beobachtete Tabea ihren angeheirateten Cousin, sah, wie ihm kleine Schweißperlen den braunen Rücken hinabrannen und wie er sich immer mit den Fingern durch seine Lockenpracht fuhr und dann den Kopf schüttelte, sodass sein nasses Haar nur so flog. Salvatore war zwar nicht direkt Tabeas Typ, viel zu oberflächlich und triebgesteuert, aber von der Bettkante würde sie ihn auch nicht schubsen. Lars, ihr Liebhaber in Berlin, war genau das Gegenteil. Intellektuell, groß und sommersprossig. Nur eins hatten Lars und Salvatore gemeinsam: Sie waren beide verheiratet!

Die Sonne brannte den ganzen Tag auf Tabeas weiße Haut, und als sie am späten Nachmittags mit Marina und Salvatore nach Hause ging, da hatte sie sich einen dicken Sonnenbrand eingefangen. Ihre Haut brannte überall wie Feuer, nur unter der kalten Dusche, die sich hinter dem Haus im Garten befand, fand Tabea Erleichterung. Sie musste zugeben, dass dort nicht nur ihre Haut abkühlte, sondern auch ihr hitziges Gemüt samt den wild umherwirbelnden Hormonen! Kein Wunder, dass die Menschen hier so heißblütig sind!

Als Tabea die Tür der Dusche aufmachte, stand plötzlich Salvatore vor ihr und schaute sie aus dunklen, feurigen Augen an. Sein Mund umspielte ein leichtes Grinsen, und als er zu ihr in die Dusche trat, die Tür hinter sich schloss und sie in seine Arme riss, da wehrte sie sich nicht im Geringsten. Es unter der Dusche treiben ist ein ganz neues Urlaubs- und Lebensgefühl, dachte Tabea lustvoll. Sie hatte einen herrlichen Ausblick auf das azurblaue Meer und den weißen Sandstrand, sogar die Palmen an der Uferpromenade waren zu sehen!

„Tabea, amore mio! Wie sehr ich dich will!“, hauchte Salvatore mit seinem Sexy-Akzent in ihr Ohr. Die restlichen italienischen Wörter, die er stöhnte, verstand sie nicht. Tabea ließ sich ganz und gar auf der Wolke der Lust und der Leidenschaft forttragen, und als das kleine Abenteuer beendet war – viel zu schnell, versteht sich –, da kam es ihr vor, als hätte sie geträumt. In den restlichen Urlaubswochen kam es noch ein paar Mal vor, dass Tabea und Salvatore zusammen träumten. Am Strand, in der Toilette im Restaurant und sogar im Ehebett, wenn Marina mit ihrer Schwiegermutter einkaufen war. Marina schien nichts zu ahnen, kochte mit ihrer Schwiegermutter Spaghetti und Meeresfrüchte und putzte sogar ihr Zimmer.

Manchmal überkamen Tabea reuevolle Gedanken, bei so viel Gastfreundschaft und Naivität, die ihre Cousine an den Tag legte, aber sie konnte und wollte nicht gegen ihren Wunsch, das Leben in vollen Zügen zu genießen und sich zu amüsieren, angehen. „Warum habt ihr eigentlich noch keine Kinder?“, fragte Tabea eines Tages ihre Cousine.

„Weiß nicht! Hat eben noch nicht geklappt!“, antwortete Marina ausweichend.

„Bist du glücklich mit Salvatore?“, wechselte Tabea das Thema.

„Ja, sehr!“ Bei dieser Antwort strahlten Marinas Augen wie zwei helle Sterne am Firmament, und Tabea beneidetet sie keinen Augenblick mehr.

Zu Hause, im kühlen Berlin, dachte sie noch oft an ihre Liaison mit Salvatore. Im Büro, das ewig gleiche Mobbing, in der U-Bahn starrten die Leute wie immer tumb vor sich hin, nur Tabea hatte Sonne im Herzen.

Sie ließ im Gedanke noch einmal den weißen, feinen Sand durch ihre Finger rieseln, und wenn sie sich sehr anstrengte, dann schmeckte sie sogar noch das salzige Meerwasser und spürte Salvatores leidenschaftliche Männlichkeit zwischen ihren Beinen.

Oh azzurro, dachte sie voller Herzschmerz, wenn sie an ihren Sommerurlaub auf Sizilien dachte. Das half ihr über die aufkommende Übelkeit hinweg, die sie jetzt des Öfteren heimsuchte!

Regina Masaracchia, geb. 1966 in Berlin, lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen auf Sizilien. Sie studierte Germanistik, Grundschulpädagogik und Italienisch und ist gelernte Krankenschwester. Zwei ihrer Kurzgeschichten wurden bereits in Anthologien veröffentlicht