: „Polen wird ein Motor sein“
Interview DANIELA WEINGÄRTNER
taz: Frau Hübner, heute werden in Athen die Beitrittsverträge mit den zehn neuen EU-Staaten feierlich unterzeichnet. In welcher Weise wird Polens Mitgliedschaft den Charakter der EU verändern?
Danuta Hübner: Bislang blieb die EU nach jeder Erweiterungsrunde ein Club schon ausgereifter marktwirtschaftlicher Demokratien. Polen ist ein großes Land mit gewaltigem Wachstumspotenzial, das den gemeinsamen Markt deutlich vergrößert. Wir haben derzeit 40 Prozent des Durchschnittseinkommens der alten EU. Unser Nachholbedarf wird ein Motor für die übrigen Länder. Das Thema Werte würde ich gern vermeiden
Nein, bitte, sprechen Sie über Werte!
Was man nicht unterschätzen sollte, ist die Fähigkeit unserer Gesellschaft, mit dem Wandel fertig zu werden. In den 90er-Jahren haben wir bewiesen, dass wir unser soziales, politisches und wirtschaftliches Leben völlig umstellen können. Das alte Europa hängt inzwischen sehr am Status quo. Wir bringen dagegen eine Menge Enthusiasmus mit.
So weit die positive Seite. Sehen Sie auch Bereiche, in denen die EU durch Polens Beitritt geschwächt werden könnte?
Unsere Schwäche ist ganz sicher der Mangel an Transparenz und Kommunikation. Die Menschen sind nicht daran gewöhnt, sich Informationen zu besorgen, sie fragen gar nicht nach. Unsere Schwierigkeit in der Referendumskampagne zum EU-Beitritt ist, die Leute dazu zu bringen, dass sie sich den Tatsachen öffnen. Das müssen wir überwinden. Aber glauben Sie wirklich, dass das die EU negativ beeinflussen kann?
Ich meine schon. Wenn Sie das Beispiel EU-Verfassung nehmen, wird es doch ganz deutlich. Die neuen Staaten bremsen den Reformprozess, weil den Wählern nicht vermittelt werden kann, dass die EU, der sie beitreten werden, nicht diejenige ist, für die sie im Referendum gestimmt haben …
Aber dieses Problem ist doch nicht neu. Die polnischen Wähler haben die Union immer schon als einen flatterigen Vogel erlebt, der schwer zu fassen ist, ständig in Bewegung. Natürlich ist das eine Herausforderung für uns. Immer wenn die Leute denken, jetzt haben wir den Stand der EU erreicht, gibt es schon wieder eine Änderung, auf die wir reagieren müssen.
Also würden Sie sagen: Die Politik der Gemeinschaft ist ohnehin immer im Fluss, da kommt es auf eine zusätzliche Vertragsreform auch nicht mehr an?
Nein, das würde ich keinesfalls sagen. Was ist denn überhaupt die Aufgabe dieser Reform? Es heißt immer, die Verträge sollen lesbarer werden. Welcher Wähler liest schon die Verträge. Die Aufgabe der Reform besteht darin, das Wirken der EU auf der nationalen und der regionalen Ebene sichtbarer zu machen. Das ist auch für die alten Mitgliedsstaaten das Wichtigste. Sie müssen ebenfalls mit einem Misstrauen der Wähler in die europäischen Institutionen fertig werden. Ich bin nicht der Meinung, dass die Institutionen und Prozeduren in der EU simpel sein müssen. Die Europäische Union ist ein komplexes Gebilde mit angemessen komplizierten Prozeduren.
Also soll bei den Institutionen am besten alles bleiben, wie es ist?
Nein, so nun auch wieder nicht. Die Kandidatenländer sehen durchaus, dass manche Dinge im Kreis der 25 nicht mehr machbar sind. Zum Beispiel sind wir dafür, die Kommission zu stärken. Wir sehen sie als die wichtigste EU-Institution an. Ich persönlich bin aber nicht sicher, ob die Wahl durch das Europäische Parlament den Kommissionspräsidenten stärker macht. Meine deutschen Kollegen glauben das, aber es macht ihn doch auch zum Spielball parteipolitischer Interessen.
Die halbjährlich wechselnde EU-Präsidentschaft ist bislang eine Möglichkeit gewesen, den Wählern die Union nahe zu bringen. Welche Alternative dazu gibt es in einer EU aus 25 Mitgliedern?
Wir kennen die Schwächen dieses Systems. Aber ganz ehrlich: Wenn wir später eine kleine Kommission haben werden, in der nicht jedes Land vertreten ist, wenn wir außerdem mit qualifizierter Mehrheit im Rat abstimmen, also das Vetorecht verlieren – wenn wir dann auch noch die rotierende Präsidentschaft aufgeben, wird die Union wahrscheinlich aus dem Bewusstsein der Leute verschwinden. Die Präsidentschaft ist ja unter anderem für die neuen Länder eine gute Gelegenheit, um den Brüsseler Betrieb richtig kennen zu lernen und die Verwaltungsprozeduren zu begreifen. Deshalb sollten wir uns ein Modell ausdenken, wo nicht jeder alle zwölf Jahre drankommt, sondern vielleicht Ländergruppen reihum den Vorsitz führen.
Was halten Sie von einer EU-Steuer?
Da sind auch die alten Mitglieder zurückhaltend. Meine deutschen Kollegen im Konvent sagen: Können Sie sich die verheerende psychologische Wirkung vorstellen, die das auf die Wähler haben würde? Ich persönlich hätte gern eine Öffnungsklausel in den Verträgen, die es ermöglichen würde, später auf ein Eigenmittelsystem umzustellen. Wir müssen die Verträge flexibler gestalten, damit wir auf die fortschreitende Integration reagieren können, ohne jedes Mal einen Reformkonvent einzuberufen.
Wie steht Polen zur Steuerharmonisierung?
Das ist ein gutes Beispiel, wo die Interessen der alten und der neuen Mitgliedsländer gegenläufig sind. Wenn wir ein wirtschaftlich schon weit entwickeltes Land wären, vielleicht sogar Mitglied der Eurozone, wären wir natürlich für mehr Steuerangleichung. Aber wir sind mitten in der Umstellungsphase. Das einzige makroökonomische Instrument, das wir derzeit haben, um unser Wachstum zu beschleunigen, ist die Steuerpolitik.
Es gibt also Interessengegensätze zwischen alten und neuen Mitgliedsländern. Gibt es auch Brüche innerhalb der Gruppe der zehn Neulinge? Zwischen dem großen Polen und den neun neuen Zwergen?
Die Leute neigen dazu, Polen wegen seiner Bevölkerungszahl zu den großen Ländern Spanien, Italien, Großbritannien zu rechnen. Was aber den Entwicklungsstand angeht, ist unser Land noch immer ein Zwerg. Ich persönlich bin überrascht, wie tief die Kluft zwischen Kleinen und Großen in der EU ist. Wir sollten versuchen, diesen Antagonismus loszuwerden.
Ist die deutsch-französische Achse hilfreich bei diesem Versuch?
Ich versuche, hinter jeder Initiative den guten Willen zu sehen. Ich gehe davon aus, dass die deutsch-französischen Initiativen auch für andere Länder offen sind. Wir müssen uns um Konsens bemühen – das meine ich nicht als Slogan. Derzeit gibt es jede Menge kleiner Clubs in der EU, die kleinen Länder treffen sich, die Transatlantiker und so weiter … Ich unterstütze das nur, wenn es am Ende dazu dient, einen gemeinschaftlichen Konsens herzustellen. Ich werde oft nach der Zukunft der Visegrád-Gruppe [Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen, d. Red.] gefragt. Ich antworte immer, dass sie kein Lobbyverein für die Interessen der östlichen Mitgliedsländer werden darf. Sie sollte nur bestehen bleiben, wenn dadurch der Dialog mit anderen Gruppen verbessert wird.
Der offene Brief von acht derzeitigen und künftigen EU-Mitgliedern, der Bushs Irakpolitik unterstützt, hat neue Gräben gerissen. Wenn Polen wählen muss zwischen seiner europäischen und seiner transatlantischen Bündnistreue – was ist wichtiger?
Wir sehen diese Alternative nicht. Solidarität ist das Prinzip, das die EU zu einem einzigartigen Staatenbund in der Welt macht. Aber wir wissen nicht, welche Herausforderungen uns in der globalisierten Welt erwarten. Deshalb ist die transatlantische Solidarität für uns ebenso wichtig. Auch die USA müssen natürlich begreifen, dass Europa nicht der Juniorpartner ist, sondern dass die Probleme nur gleichberechtigt gelöst werden können.
Der US-Präsident wendet sich nun gegen Syrien, gegen den Iran. Wenn Sie hier auf dem Campus der Brüsseler Universität von Louvain-la-Neuve aus dem Fenster schauen, sehen Sie überall „No-War“-Plakate. Ihre Politik der transatlantischen Bündnistreue werden viele EU-Regierungen nicht mitmachen, nicht solange Bush an der Macht ist. Muss es also in der Verteidigungspolitik verstärkte Zusammenarbeit von Ländergruppen geben?
Wir wollen keine Entscheidung treffen müssen zwischen der Europäischen Union und den USA. Wir versuchen, diesen Bruch zu vermeiden. Aber wir haben ein stärkeres Schutzbedürfnis als viele andere Länder in Europa, wir haben eine andere Geschichte. Keinesfalls wollen wir die EU auf Kosten der Nato stärken. Wir sehen uns als Brücke zwischen den USA und Ländern wie Frankreich, die aus historischen Gründen größere Distanz zu Nato und USA haben. Europa wird in den kommenden Jahren außenpolitisch nicht mit einer Stimme sprechen können. Wir müssen aber dennoch versuchen, außenpolitisch so weit wie möglich gemeinsam aufzutreten. Im Konvent scheint sich immerhin ein Konsens darüber abzuzeichnen, dass wir einen europäischen Außenminister brauchen, der bei Rat und Kommission gleichzeitig angesiedelt ist. Wir brauchen auch gemeinsame diplomatische Vertretungen.
Eine EU-Vertretung in Washington, wie sollte das in der derzeitigen Situation funktionieren?
Ja, zugegeben … aber wir brauchen bessere außenpolitische Mechanismen. Ich glaube, es war ein Fehler, dass wir nicht sofort nach dem 11. September einen Sondergipfel einberufen haben.