Das Geheimnis der Nähe

Mit den Gefühlen, Erfahrungen und der Imagination anwesend sein: Das Willy-Brandt-Haus zeigt Fundstücke des Blicks des schwedischen Fotografen Christer Strömholm

Bilder auf der Strecke der Verwandlung des Dinglichen ins Zeichenhafte

Was aufgeführt wird, bleibt ein Geheimnis. Wohlgeformte Waden in Netzstrümpfen und Stöckelschuhen stehen zwischen Männerhosenbeinen auf einem Tisch, einer improvisierten Bühne, irgendwo draußen auf den Straßen der Nacht. Paris, 1954. Christer Strömholm, der die Szene fotografiert hat, lenkt unseren Blick über den eines kleinen Jungen, der vor dem Tisch steht und hochschaut. Sein Gesicht ist der hellste Punkt – im Dunkeln verschwimmen die Körper der anderen Beobachter. Vielleicht gibt es Musik, vielleicht Mode, vielleicht wird hier Sex verkauft oder existenzialistisch agitiert. Doch es ist schön, dem einfach nur staunend zu folgen.

Christer Strömholm, geboren 1918 in Stockholm, 2002 gestorben, ist in Schweden ein bekannter Fotograf. Sowohl durch seine eigene Arbeit, die einerseits dem Surrealismus und der Malerei der Nachkriegsmoderne nahe standen und andererseits Nähe und Verantwortung des Fotografen für sein Modell einforderten, als auch durch seine Fotoschule Fotoskolan. Im Willy-Brandt-Haus werden er und einige seiner Schüler erstmals ausführlich in Deutschland vorgestellt. Strömholm war mit Peter Weiss befreundet, den er im Depot eines Museums porträtiert hat, im Seitenlicht eines schmalen Fensters, zwischen Köpfen der Antike. Er hatte in Dresden Kunst studiert, die Schließung des Bauhauses erlebt und mit einer schwedischen Widerstandsgruppe gegen die deutschen Truppen in Norwegen gekämpft. Als er 1946 in Paris noch einmal zu studieren begann, fotografierte er Marcel Duchamps und Man Ray, die Paten des Surrealismus, als alte Männer.

Unter den Eigenschaften, die er von einem guten Bild verlangte, notierte er: „Präsenz – mit meinen Gefühlen, Erfahrungen und meiner Imagination anwesend zu sein.“ In zwei seiner Serien „Die Freunde von der Place Blanche“ 1956/1962 und den „Todesbildern“ von 1954/64 ist der Raum der Gefühle, des Begehrens und der Angst, unübersehbar weit geöffnet. Die „Todesbilder“ entstanden aus objets trouvés, Fundstücken des Blicks, und lesen im Verfall: der mumifizierte Kopf einer Katze, das Maul aufgerissen und die scharfen Zähne schimmernd durch die schwarze Haut und Erde; Masken mit erschreckt geweiteten Augenlöchern, die in erdigen Krusten oder Schaum erscheinen; Körper, die sich unter Tüchern abzeichnen. Zehn Jahre lang trug er Bilder auf dieser Strecke der Verwandlung des Dinglichen ins Zeichenhafte zusammen, eine ständige, wenn auch zarte Drohung des Todes, der immer in den Rändern des Lebendigen nistet.

Das Leben als eine Aufführung zu sehen, die denen gehört, die mit den Zeichen spielen können, ist die Essenz der „Freunde von der Place Blanche“. Es war die Zeit von lang gezogenen schwarzen Augenlinien, von Strass und Handschuhen, von Zigaretten zwischen den Fingerspitzen und aufgeknöpften Männerhemden. Tonia, Gina, Nana, Panama heißen die Schönen, von denen man nicht mehr entscheiden könnte und möchte, ob es Frauen oder Männer sind.

Strömholm gesteht ihnen alle Macht der Verführung zu. Aber weil diese Wirklichkeit eine inszenierte ist, ist sie auch verletzbar und anfällig. In ihrem Strahlen sitzt immer schon die Angst vor ihrem Verlöschen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Bis 30. April, Di.–So. 12–18 Uhr, Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Kreuzberg