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Archiv-Artikel

Ein Bier gegen die Angst

Vor gut dreißig Jahren wurde in Kopenhagen ein Freistaat gegründet: Christiania. Ein Paradies für Hippies. Der legendäre Pioniergeist lebt auf, wenn Razzien drohen

aus Christiania BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Der Besuch von Christiania beginnt ernüchternd. Knapp hinterm Eingang gibt es einen Markt, wie er sonstwo stehen könnte. Billige Sonnenbrillen, südamerikanische Wollmützen, Silberschmuck und T-Shirts.

An einem der Tische, auf denen Perlentaschen, Ringe und Holzketten ausgebreitet sind, sitzt eine Frau und liest in der Bunten. Sie ist Mitte vierzig, stammt aus Köln, lebt seit fünf Jahren in Kopenhagen und hat auch in Deutschland auf Märkten verkauft. „Arbeit ist Arbeit“, sagt sie emotionslos und wendet sich wieder ihrer Lektüre zu.

Auffällig sind nur die vielen Wohnwagen. In denen gibt es zu Reggaeklängen Bongs, Papers und Grassamen zu erwerben. Geradezu inflationär an diesem Ort ist das Hanfblatt zu finden – auf Aufklebern, T-Shirts oder Fahnen. Bizarr wirkt der Stand einer jungen Frau, die gebrannte Mandeln verkauft und auf ein Pappschild „No hash“ geschrieben hat.

Den Stoff gibt es wenige Meter weiter, in der Pusherstreet. Durch den etwa zwei Meter breiten und nur wenige hundert Meter langen Weg schieben sich, besonders an den Wochenenden, tausende von Touristen. Rechts und links stehen Holzhäuschen, in denen das feilgeboten wird, was viele hertreibt: Haschisch und Marihuana.

Jungs in Hiphopperhosen und Basecaps bieten „Pakistan“, „Super Standard“, „Go Standard“, „Afghan“, „X-treme“, „Semi“ oder „Pot Joints“ an. Einige der Verkäufer schmücken sich mit Pitbulls. Andere betonen ihre Wichtigkeit mit weißen Handschuhen, die sie sich überstreifen, wenn sie ihre Ware abwiegen und verpacken. Mehr als ein „Die Bullen sind Arschlöcher“ oder „Hoffentlich wird das alles eines Tages legal“ kommt ihnen nicht über die Lippen.

Es sind auch Kinder von Christianiagründern, die mit Touristen Geschäfte machen. Angst vor der Polizei und ihren Razzien? Sie geben sich cool.

Anders ist es bei der Frau, die wenige Meter weiter, unter freiem Himmel, auf einem Barhocker sitzt. Sie ist 45. Doppelt so alt wie die Hiphopperjungs. Die Frau mit den braunen Augen und den leicht ergrauten Haaren bietet ihre Ware auf dem Gehweg an.

Hinter ihr das „Woodstock“, die älteste Kneipe des Freistaates. Vor ihr ein kleiner Tisch mit Joints in Plastikhüllen und schokoladentafelgroßen Haschischstücken. Auf einem handgeschriebenen Zettel wird Nepal als Herkunftsland benannt. Neben einer Zange, mit der sie die gewünschte Menge abbricht, liegt ein Feuerzeug mit der Aufschrift Say No To Hard Drugs.

Ihren Namen will sie nicht sagen. „Ich könnte sonst morgen im Gefängnis sein. Diese Angst gehört zum Leben hier“, sagt sie, während sie die Pusherstreet im Auge behält und einen Schluck Bier aus der Flasche nimmt. „Ich bin nervös“, gesteht sie. „Was glaubst du, warum ich Bier trinke?“

Sie erzählt von den Razzien, die seit vorigem Jahr wieder zugenommen haben. „Die Polizei verfolgt die Leute bis in ihre Wohnungen. Selbst Kinder werden kontrolliert.“ Der reine Horror: „Eine Razzia in der Nacht, bei der beide Brücken geschlossen werden und es keine Fluchtmöglichkeiten gibt.“ Und wenn doch die Polizei auftaucht? „Dann renne ich weg. Ohne mein Rauchzeug.“

Auf die jungen Verkäufer in der Pusherstreet ist sie nicht gut zu sprechen. „Es ist nicht gut, wenn Kinder ihren Eltern in jeder Hinsicht nacheifern“, sagt sie. „Einige gehen nicht zur Schule. Und wenn sie festgenommen werden, haben sie gar keine Zukunft.“ Sie spricht vom schnellen Geld, das die Jungen lockt, und vom Irrglauben, dass Geld Macht verleihe.

Sie lebt seit 25 Jahren in Christiania. Ihr muss man nichts erzählen von Idealismus, Euphorie und Gemeinschaftssinn: Denn sie war dabei. Mit achtzehn Jahren hatte sie sich in einen Mann verliebt, der schon in Christiania wohnte. „Das war das Paradies auf Erden.“ Soll heißen: keine Konventionen und Haschisch rund um die Uhr.

Mutig war sie, nicht wie andere, die nur wollten und doch nicht konnten. Sie aber gab ihre Wohnung in Kopenhagen auf und ihre Arbeit als Küchenhilfe in einem Krankenhaus. Samt Musikanlage und wenigen Möbeln zog sie in den Freistaat. „Ich liebte es hier!“, sagt sie, und ihre Augen strahlen für einen Moment. Zehn Jahre später heiratete sie in Kalifornien ihren Christianiter.

Doch die Ehe hielt nicht, und ihr Ex wohnt längst nicht mehr in Christiania. Geblieben ist von dieser Liebe ein Sohn, dreizehn Jahre. Hinzugekommen sind nach den Jahren des Vor-sich-hin-Lebens Erkenntnisse und Erfahrungen. Davon soll ihr Sohn profitieren. „Er soll nicht rauchen und nicht trinken!“

Sie würde ausflippen, schwört sie, wenn er mit Drogen, welcher Art auch immer, zu tun hätte. Und sagt es dennoch sehr entschieden.„ Da bin ich hinter ihm her.“ Sie selbst hat im gleichen Alter wie ihr Junge heute das Rauchen angefangen. Und wenige Jahre später die ersten Joints probiert – und nie eine Ausbildung gemacht.

Ihr Sohn soll einen anderen Weg gehen. Dazu gehört auch ein halbwegs ausgewogenes Verhältnis zur Polizei. Als er noch klein war, erklärte ihm seine Mutter die Razzien im Sinne der Gesetzeshüter. „Die Polizei muss aufpassen.“ Mittlerweile kann sie differenzierter mit ihm reden. Sie will, dass er „eine normale Beziehung“ zur Polizei bekommt. Das ist schwierig. Was ist in Christiania schon normal?

Das fragt man sich auch, als sie erzählt, dass sie ihren Sohn auf eine Privatschule schickt. Um die zu finanzieren, steht sie zweimal in der Woche mit ihrem Tisch vor dem „Woodstock“ und spült ihre Angst mit Bier herunter. „Er sieht mich, wenn ich müde und mit Angst nach Hause komme.“ Vor allem das will sie ihm ersparen.

Sie ist froh, wenn diese Zeiten vorbei sind und sie ihr Geld auf andere Art verdienen kann. Mit einem richtigen Beruf. Deshalb hat sie vor zwei Jahren eine Lehre als Bibliothekarin begonnen. Indirekt hat sie das ihrem Sohn zu verdanken. Sie will vor ihm nicht als Versagerin dastehen. „Ich will ihm zeigen, dass ich auch was anderes kann“, sagt sie stolz.

Mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung könnte sie außerdem eine Wohnung jenseits des Freistaates bezahlen. Da ist sie wieder, diese Angst, die viele im Freistaat fühlen. „Vielleicht wird ja Christiania dieses Jahr zugemacht“, sagt sie. Dabei würde sie so gerne eines Tages in der Bibliothek in Christiania arbeiten.

Nur zögerlich willigt sie in ein kurzes Gespräch mit ihrem Sohn ein. Er ist ein netter Junge in weiten Jeans, blauweißer Anorak, kurze Haare. Es amüsiert ihn, wenn ihm auf der Privatschule niemand glaubt, dass er in Christiania wohnt. „Viele denken, hier würden nur Junkies leben“, sagt er abgeklärt. Er weiß es besser. Wenn er „groß“ ist, will er weiter in Christiania leben, obwohl er auch außerhalb viele Freunde hat. Warum? „Weil’s mir hier gefällt.“ Seine Mutter lächelt. Es war nicht alles umsonst.

Sie hat viele Jahre im „Woodstock“ hinterm Tresen gestanden, Bier gezapft und jede Menge gekifft. Doch diese Zeiten sind passé. Das „Woodstock“ füllen ergraute Männer und Frauen, altgediente Christianiter, die am Zahltag des Sozialamtes direkt in die Kifferkneipe spazieren. Doch sie geht dort kaum noch hin. „Ach, der ganze Rauch da drin.“ Ab und an teilt sie sich mit einigen Stammkunden ein Chillum. Und manchmal genehmigt sie sich zu Hause einen Bong. Aber nicht im Wohnzimmer. „Wegen meines Sohnes.“

Einer ihrer Stammkunden ist einer in ihrem Alter, ein Kerl mit Cowboyhut. Er wohnt im altbürgerlichen Kopenhagen, arbeitet für ein Umzugsunternehmen und besucht seit 25 Jahren Christiania. In den ersten Jahren ließ er sich fast täglich in der Pusherstreet blicken, mittlerweile hat er die Besuche auf zwei, drei Mal im Monat reduziert. Sein Lieblingsplatz war und ist die Bank vor dem „Woodstock“.

Von dort hat er einen exzellenten Blick auf die Touristen. „Der größte Laufsteg der Welt“, sagt er begeistert. Es stört ihn nicht, als ein Betrunkener mit Sträflingskleidung und Eisenkugel am Bein fast auf ihn drauf fällt. Er spricht ihn sogar an und erfährt, dass es ein Norweger ist, der bald kein Junggeselle mehr ist.

„Hier kannst du sein, wie du bist!“, schwärmt er und schaut dem Sträflingstouristen hinterher, wie er mühsam die Eisenkugel durch den Staub zieht. Nur eine Sache stört den Stammkunden in Christiania. „Diese Holzhütten von den jungen Verkäufern gefallen mir nicht. Die Leute mauern sich ein. Wie draußen.“

Die vielen Razzien und dass sie kein Ende nehmen wollen hat die jungen und alten Haschverkäufer einander näher gebracht. „Wir treffen uns jetzt öfter“, erzählt die Frau vor dem „Woodstock“. Sie freut sich über diese neue Gemeinschaft. Andererseits macht sie sich nichts vor. Der Kontakt über die Generationen hinweg ist nur dem Haschisch zu verdanken. „Wir mögen eben das Gleiche“, sagt sie über das einzig Verbindende. Und lacht.

BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA, 39, ist Reporterin der taz und lebt in Berlin