: Ich will so glauben, wie ich bin
PR für den lieben Gott: Andreas Otten macht den sonntäglichen Kirchgang zum Erlebnis. Das traditionsbeladene literarische Genre ‚Predigt‘ frisiert der Pastor von Meyenburg zeitgemäß – zum Beispiel mit Zitaten aus der Werbung. Ein ‚Abendmahl light‘ will er jedoch auch in Zukunft nicht anbieten
„Unsere Werke, unser Tun und Handeln wird einmal auf den Prüfstand gestellt. Müssen wir als Christen davor Angst haben?“ Ein Hüsteln, ein Schneuzen, Kirchenbänke knarzen.
Die angenehme Predigerstimme fährt fort: „Ich muss an die „Du darfst“-Reklame denken: Eine junge Frau steht vor dem Spiegel“, referiert der Geistliche den Spot. „Sie sagt: Paul findet meinen Bauch zu dick und meinen Po zu klein.“ Kurzes Innehalten, dann das Fazit: „Das wäre gut, wenn wir sagen könnten: ICH finde mich extrem okay.“
Seit 15 Jahren ist Andreas Otten Pastor in Meyenburg bei Schwanewede. Ist die Kirche dort „Sponsored by Du darfst“? Keineswegs. Nur steht der Pastor mit beiden Beinen im Heute. Andreas Otten ist auf den ersten Blick ein lebendes Klischee. Er wohnt mit seiner großen Familie in einem urigen Backsteinpfarrhaus direkt neben der Kirche. Außerdem trägt er Bart und hat eine derart sanftmütige Art zu reden, dass man glauben muss: Dieser Mensch ist die Güte in Person.
Was seine Arbeit betrifft, ist er jedoch alles andere als ein Klischeebediener. Was hätten sich wohl predigttheoretische Vordenker wie Luther, Schleiermacher, Hirsch dabei gedacht, dass Kirchenbesucher beim Weihnachtsgottesdienst in Meyenburg von Harry Potters raffgierigem Cousin erfahren? Wie hätten sie es gefunden, dass auf der Kanzel Schleichwerbung gemacht wird? Der Reformator jedenfalls wäre angetan gewesen, hatte er doch schon frühzeitig in seiner Predigtlehre neben Inhalt und Rhetorik auch den „genus illustrans“ – das Verwenden von Bildern – zur notwendigen Dreifaltigkeit einer gelungenen Ansprache gezählt.
Es genüge nicht, nur zu belehren oder zu ermahnen, sagte Luther. Und Pastor Otten sagt: „Ich fange mit einem Wort an, das ist 3000 Jahre alt. Das ist die Verankerung. Und dann wird’s modern, sogar ein bisschen spannend. Die sitzen da ja nicht nur, die wollen was erleben.“
188.557 Menschen traten allein im Jahr 2000 aus der evangelischen Kirche in Deutschland aus. Dem standen im selben Zeitraum nur 61.497 Eintritte gegenüber. Die Auswertung der neueren Daten fehlt noch. Doch die Tendenz ist schon seit einem Jahrzehnt eindeutig: Die Wende im Jahr 1989 hatte den Gotteshäusern noch kurzfristig Zuwachs beschert. Seither aber sinkt die Zahl der Gläubigen stetig – auch bei den Katholiken. Ob das an der Spaßgesellschaft liegt oder am Vorwurf, die Kirche lebe in der Vergangenheit, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich spielt beides eine Rolle.
Letzterem Vorwurf musste sich die Kirche schon vor hundert Jahren stellen, als der Theologe Friedrich Niebergall seinen Aufsatz „Die moderne Predigt“ verfasste. Darin heißt es: „Die Voraussetzung für die folgenden Darlegungen bildet der nicht seltene Eindruck, dass manche heute gehaltene Predigt gerade so anmutet, als wäre sie vor dreißig Jahren gehalten worden oder als hätte sie damals gehalten werden können.“ Ein Vorwurf, der sich auch heute oft erheben lässt.
Pastoren wie Andreas Otten versuchen, gegenzusteuern. Er gehe mit seinen Predigten schwanger wie eine Frau mit einem Kind, erzählt er verschmitzt. „In dem Moment, wo ich Alltagserlebnisse in den Gottesdienst hole, merken die Leute: Mensch, der Pastor weiß auch von unserer Welt, was uns interessiert.“
In den obersten Kirchenkreisen hat man solche Sprünge in die Moderne längst wohlwollend zur Kenntnis genommen. Oberkirchenrat Thies Gundlach erkennt sogar eine Art Trend: „Da kommt eine neue Pastorengeneration, die sich mehr mit der Moderne auseinandersetzt.“ Das Kunststück des Spagats sei es, moderne Bilder mit der alten Sache zu verbinden, ohne Scheuklappen tragend dem Zeitgeist hinterher zu hecheln.
Gundlach selbst hatte während seiner zehnjährigen Pastorenzeit in Hamburg versucht, diesen Weg zu gehen, um die Jugend für Gott zu gewinnen. „In der Kirche gibt es diesbezüglich kein Vorab-Entsetzen“, sagt er. „Ganz im Gegenteil: Wir befürworten es.“
Pastor Ottens Einstellung geht weit über moderne Predigten hinaus: Konfirmanden müssen bei ihm zum Beispiel nicht die zehn Gebote aufsagen. Was zählt, sei der Inhalt und nicht das Herunterbeten von Worthülsen: „Was soll ich Kinder, die nachmittags Shakira hören, alte Kirchenlieder auswendig lernen lassen?“ Gewisse Traditionen gehören aber auch für ihn zum Kernbestand:„Christi Leib“ wird beim Abendmahl trotzdem „für dich gegeben, Christi Blut für dich vergossen“. Rituale, die gerade für die älteren Kirchgänger sehr wichtig seien.
Und wie reagieren die auf seine Modernismen? Wir würden unsere Senioren unterschätzen, glaubt der Pastor, wenn wir dächten, Sätze wie „Der Himmel ist online“ könnten sie schockieren. „Den alten Menschen“ sei ja „an der Zukunft der Kirche gelegen.“ Dass man sich dafür der Moderne anpassen muss, wüssten sie genau. Also keine Zweifel? Finden sie Ottens Predigten extrem okay? „Ob sie nun über dieses und jenes immer begeistert sind, das weiß ich nicht“, räumt er dann doch ein. „Aber das muss auch nicht so sein.“
Susanne Polig