„Hände waschen, den Atemschutz umbinden und trotzdem lächeln!“

Nichts los an der Peking-Universität: Anstatt die politische Krise zu wittern, kümmern sich die verbliebenen Studenten lieber um die Verteilung von Atemschutzmasken

PEKING taz ■ Wieder ist Frühling, wieder wallen die Gefühle der Studenten, und wieder ist der Ärger über die Regierung groß. Doch siehe da: Am Dreiecksplatz auf dem Campus der Peking-Universität ist nichts los. Wo früher die Wandzeitungen der rebellierenden Jugend klebten, am ehemals wichtigsten Umschlagplatz für Information in der Stundentenrevolte vor 14 Jahren, steht heute nur ein einziges, selbst gemaltes Schild, auf dem zu lesen ist: „Lasst uns die Hände waschen, den Atemschutz umbinden und trotzdem lächeln!“

Die Reaktion ist für einen Teil der Studenten typisch. Statt mit dem Auftauchen des SARS-Virus die politische Krise zu wittern, denkt man privat: ans Händewaschen und den individuellen Schutz vor dem Virus. Allerdings haben die meisten, die so denken, bereits den Campus verlassen, wo die Ansteckungsgefahr vermeintlich höher ist als daheim bei den Eltern. Bleiben also die zurück, für deren politischen Kriseninstinkt die Peking-Universität berühmt ist: Studenten wie Tian Geng, der seine Dissertation über das Frühwerk Pierre Bourdieus ruhen lässt, um mit der MBA-Kandidatin Li Qing sich SARS-Neuigkeiten aus dem Internet zu holen. „Wir leben hier seit Wochen im Schatten des Virus“, sagt Tian. „Die neuen Zahlen der Regierung über das Ausmaß der Krankheit überraschen uns nicht. Wir glauben, dass sie in Wirklichkeit noch sehr viel höher liegen.“ Längst arbeiten Typen wie Tian nicht mehr mit Wandzeitungen. Stattdessen laufen bei ihm SMS-Meldungen im Minutentakt ein. Li Qing telefoniert derweil direkt mit einer befreundeten Medizinstudenten in ihrer Heimatprovinz Ningxia. Die meldet ihr fünf neue SARS-Fälle: „Da hast du’s“, sagt sie zu Tian. „Offiziell gibt es auch nach den neuen Zahlenangaben für Peking nur einen SARS-Fall in Ningxia. Die Regierung lügt also immer noch.“

Beweise brauchen die Studenten keine weiteren. Fragt sich nur: Was tun? „Der Irakkrieg war weit weg. Demonstrieren wäre für mich nicht in Frage gekommen“, meint die 20-jährige Li in ausgewaschenen Jeans und rotem Blouson. Bei SARS aber sei das anders. „Wenn es darum ginge, die Wahrheit über das Virus ans Licht zu bringen, würde ich dafür sofort auf die Straße gehen“, beteuert die Studentin.

Tian im eng anliegenden T-Shirt betrachtet die Dinge philosophischer: „Wir müssen erst einen neuen Sinn dafür entwickeln, was jetzt normal ist und was nicht“, geht er der Frage nach dem Für und Wider politischer Aufklärungsaktionen nach. „Als Individuen bietet uns SARS ganz neue Chancen, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, aber wir kennen die Krankheit nicht und deshalb auch nicht die richtigen Antworten“.

Dass die Regierung bisher die falschen Antworten gab, ist aber nicht nur Tian und Li klar. „Das Verbergen der Wahrheit ist ein alltägliches großes Problem, das auf den strukturellen Mängeln unseres politischen Systems beruht“, analysiert die führende Schanghaier Tageszeitung Wenhuibao. „Das lässt sich nicht mehr mit Bürokratie oder Korruption begründen, sondern zeigt, dass der demokratische Aufbau den Ansprüchen der Bevölkerung und den Erfordernissen der Modernisierung nicht genügt.“ Da hallt also bereits die Demokratieforderung der Stundentenrevolte wider. Auf dem Papier würden sie die heutigen Studenten der Peking-Universität immer noch unterzeichnen. Doch dafür handeln kommt derzeit wohl noch nicht in Frage. „Wir brauchen jetzt keine soziale Bewegung, die stiftet nur noch mehr Unruhe“, meint Zhang Ting, die denselben Soziologiekurs wie Tian belegt. Viemehr fordert sie ein Wiederaufleben der sozialistischen Einheiten, die in der Vergangenheit die Gesundheitsversorgung des Einzelnen sicherten. Von ihren Überresten werden an der Peking-Universität derzeit die Atemschutzmasken verteilt.

GEORG BLUME