: Ein mörderischer Pate für die neue Schule
Robert Steinhäuser, der Todesschütze von Erfurt, hat die Schulreformen in Thüringen beschleunigt – und verschärft
BERLIN taz Das hat er wahrscheinlich nicht gewollt. Robert Steinhäuser, der vor einem Jahr in seiner Schule in Erfurt vierzehn Menschen und danach sich selbst umbrachte, hat die Schulpolitik des Landes Thüringen verändert. Gab es vor seiner Tat ein kaum verständliches Hin und Her, hat das Land danach zielstrebig die lange geplanten Umbauten im Schulgesetz vorgenommen.
Als Steinhäuser nach der Waffe griff, war er nach den Maßstäben der Thüringer Schulphilosophie ein Gescheiterter. Der junge Mann hatte zwar das Gymnasium besucht. Aber er hatte weder das Abitur noch sonst irgendeinen Schulabschluss. Die so genannte externe Realschulprüfung, die jedem vom Gymnasium geflogenen Schüler möglich ist, hatte er nicht geschafft. Er stand mit leeren Händen da.
Heute wäre das so nicht mehr möglich. Seit diesem Schuljahr kann jeder Gymnasiast freiwillig die mittlere Reife ablegen, ab dem kommenden Jahr wird sie sogar verpflichtend sein. Das bedeutet: Beim Übergang von der 10. zur 11. Klasse muss sich jeder Pennäler der Realschulprüfung unterziehen.
Dabei haben die Schulpolitiker in der Landeshauptstadt einen Mittelweg gewählt: Es gibt weder eine aufwendige eigene Realschulprüfung noch wird die mittlere Reife – wie in anderen Bundesländern – automatisch vergeben. Thüringen hat seine Regeln für die Versetzung in die 11. Gymnasialklasse verschärft. Die SchülerInnen schreiben zusätzlich in den Fächern Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache eine Klausur. Damit sichern sie sich den Übergang in die 11. – und die mittlere Reife.
Thüringens Kultusminister Michael Krapp (CDU) ist zufrieden, mit dieser Regelung einen Leitsatz seiner Schulen gewahrt zu haben. „Kein Abschluss ohne Prüfung“, heißt das Motto, das mit dazu beitrug, den jungen Attentäter in eine psychologisch schwierige Situation zu bringen.
„Prüfe und Herrsche“
Schulpolitisch ist auch die neue Thüringer Regelung kein Ausweg aus der Situation des „Prüfe und herrsche“ an den Schulen. Die Klausuren für den Übergang in die 11. Klasse sind nämlich zentrale Prüfungen. Es ist also eine landesweite Festsetzung von Terminen nötig. Damit wird aus dem Ende der 10. Klasse doch wieder ein mehr oder weniger spektakulärer Testfall für das weitere Leben.
Die Crux des Thüringer Weges ist die des deutschen Schulsystems insgesamt. Wer sich einmal für Noten, Sitzenbleiben und die Verteilung der Schüler auf verschiedene Leistungsstufen entschieden hat, tut sich schwer, das „partnerschaftliche Verhältnis“ zwischen Schülern und Lehrern herzustellen, das sich Kultusminister Krapp sehnlich wünscht. Krapps Leitsatz nach dem Erfurter Massaker lautet, „dass wir alle mehr aufeinander achten müssen“. Also versucht er in seinen Schulen vieles, was dem „Lernen durch Notendruck“ die Schärfe nehmen soll. Aber ein „Lernen aus Freude und Motivation“ wird daraus noch lange nicht.
Thüringens Schulpolitik schwankt, so klar und nachvollziehbar die „Nach-Erfurt-Maßnahmen“ auch erscheinen, zwischen Extremen. Krapp hat etwa eine Meldepflicht der Schule gegenüber den Eltern eingeführt – bei allen „wichtigen Dingen, die die Schule betreffen“. Damit soll gegen das andere Erfurter Unikum Vorsorge getroffen werden – dass der Schüler Steinhäuser ja schon lange gar kein Schüler mehr war, bevor er tödliche Schüsse abfeuerte. Zu Hause, in seinem Elternhaus, hatte niemand bemerkt, dass der Sohn über Monate nicht mehr in die Schule gegangen war, sondern sich in der Stadt versteckt hatte.
Meldepflicht der Schule
Die Meldepflicht, die nun auch gegenüber den Eltern volljähriger Schüler gilt, wird die Schulatmosphäre selbst kaum beeinflussen. Wenn Schule wenig Spaß macht und viele Demütigungen bereithält, kann eine gestärkte Aufsicht nur eine Notmaßnahme sein. Vielleicht wirkt sie unter Umständen sogar wie ein weiteres repressives Element in der Schule des Scheiterns. Bei Pisa wurde ermittelt, dass kaum ein anderes der getesteten Schulsysteme so viele Versager produziert wie das deutsche: Jährlich bleiben 500.000 Schüler sitzen; ein „einschneidendes Schulversagenserlebnis“, wie es die Schulforscher nennen, machen satte 40 Prozent eines Jahrgangs. Dazu gehören zurückgestellte Schüler (10 Prozent), Sitzenbleiber (24) und Schulabsteiger (10).
Um die Gedemütigten und die anderen Schüler in Schach zu halten, hat Michael Krapp noch ein anderes Modell gestartet. Es heißt „Schuljugendarbeit“ und ist auch in den Worten des Ministers nicht ganz leicht zu verstehen. Er meint damit den „Ausbau außerunterrichtlicher Betreuungs- und Förderangebote im Sozialraum Schule“. In Wahrheit ist es nichts anderes als eine Ganztagsschule, die diesen Namen nicht tragen darf. Schülern sollen Angebote für ihre Freizeit gemacht werden, erklärt jemand aus Krapps Ministerium, „damit sie am Nachmittag etwas Sinnvolles in der Schule tun, anstatt zu Hause Counterstrike zu spielen“.
Wieder steht Robert Steinhäuser Pate. Selbst wenn der Minister Wert darauf legt, dass die Schuljugendarbeit schon lange zu seinen Lieblingsprojekten zählte. Der vielfache Todesschütze war begeisterter Counterstrike-Spieler. CHRISTIAN FÜLLER