: Hildesheim ist überall
Zwei Schüler wurden im Stadtteil Kirchhuchting von Mitschülern misshandelt. Bildungsbehörde weist das Problem von sich: „Ist Sache des Stadtteils“. Der sitzt seit Januar am Runden Tisch
Bremen taz ■ Ein gefundenes Fressen für die Bild-Zeitung und die Boulevard-Sender dieser Republik: Nach den Gewaltexzessen an Schulen in Hildesheim und Hannover sind jetzt auch in Bremen zwei Fälle von Misshandlungen bekannt geworden. Sieben Schüler zwischen 13 und 15 Jahren sollen im Januar Videoaufnahmen von ihren Opfern, ebenfalls Schüler, gemacht haben, zwangen sie Schnaps zu trinken und attakierten sie anschließend sexuell. Die Taten fanden nicht in der Schule statt.
Gegen drei Schüler hat die Staatsanwaltschaft inzwischen Anklage erhoben, ein vierter Tatverdächtiger ist erst dreizehn Jahre alt und damit nicht strafmündig. In der Schule wie auch bei Polizei und Stadtteileinrichtungen sind die erschreckenden Vorfälle seit Januar bekannt.
„Habt ihr Stress?“
Betritt man den Schulhof des Schulzentrums Willakedamm in Kirchhuchting – die meisten der Beteiligten gehen hier zur Schule – leuchtet einem ein großes handgemaltes Schild entgegen. Mit dem Slogan „Habt ihr Stress? – kommt zu uns“ wirbt das hauseigene „Streitschlichter“-Büro um offenen Umgang mit Problemen. Es hat den Anschein, als bevorzuge man hier langfristige Lösungen. Die Behörde aber ‚löste‘ das Gewalt-Problem lieber im Hauruckverfahren: Sie hat die Tatverdächtigen der Schule verwiesen und auf andere Schulen verteilt. „Wir müssen den Frieden wieder herstellen“, begründet der Sprecher des Bildungsressorts, Rainer Gausepohl, die Maßnahme. Gewaltexzesse würden außerdem durch Gruppenverhalten befördert – insofern habe man die Clique auseinanderdividieren wollen.
Lehrer und Schulleitungen – einer der Beteiligten ging auf die Stadtteilschule Hermannsburg – wollten gestern keine Stellung beziehen. „Es ist ja nicht an der Schule passiert“, wimmelt eine Sekretärin ab. Und auch Gausepohl sagt: „Das ist ein Problem des Stadtteils“. Der sitzt seit Januar am „Runden Tisch“: Polizeibeamte, Streetworker, Schulleiter und der Leiter des örtlichen Sozialzentrums Rolf Diener beraten dort, wie sie mit den Jugendlichen umgehen. Nächste Woche soll ein Gespräch mit den Eltern stattfinden. Mit Psychologen wird derzeit erörtert, ob eine Art „Gruppentherapie“ mit den Jugendlichen angezeigt ist, oder ob man mit einzelnen arbeitet – immerhin geht es auch um Sexualität.
Wurde der Täter zum Opfer?
Der Cliquenaspekt steht – anders als beim Schulverweis der Behörde – bei der Arbeit des Runden Tisches nicht im Vordergrund. Zumal Eingeweihte berichten, einer der jungen Täter sei beim zweiten Vorfall selbst zum Opfer geworden. Auch Schüler wiedersprechen der Cliquen-Theorie. Ein 15-Jähriger betont, er kenne einige der Beteiligten. Von einer Gang könne nicht die Rede sein. Es handle sich um einen größeren Freundes und Bekanntenkreis: „Wer sich da grade zusammenfindet, ist eher Zufall“. Kirchuchting sei kein Ghetto, betont er. „Es ist aber schon wichtig, dass man die richtigen Leute kennt, wenn man seine Ruhe haben will.“
Während der Leiter des Huchtinger Ortsamtes Uwe Martin „keine soziale Schieflage“ in seinem Bezirk erkennen mag und auch der Sprecher des Beirats, Ralf Selter (SPD), sagt: „Das hätte auch in Schwachhausen passieren können“, sprechen vergangene Vorfälle für ein besonderes Problemfeld.
Anti-Gewalt-Training
Zuletzt machten Huchtinger Jugendliche vor zwei Jahren negative Schlagzeilen, als heimische und auswärtige Grüppchen ein Fußballturnier brutal auseiandernahmen. Auch damals setzte sich der Stadtteil zusammen, zog, so Sozialzentrumsleiter Diener, „an einem Strang“. Ein Anti-Gewalt-Training hätte „viel gebracht“, bestätigt auch die Leiterin des Vereins für akzeptierende Jugendarbeit (Vaja), Petra Brandt. Der Verein hat seit 1995 zwei Streetworker in Huchting im Einsatz.
Ansonsten sieht es mit Angeboten für Jugendliche eher mager aus. Ein Jugendhaus namens Mixbox, in dem hauptsächlich Migranten verkehrten, musste vor einem Jahr die Pforten schließen. Das einzige städtische Freizeitheim wird derzeit umgebaut. Das Notprogramm findet nun in einem leer stehenden ehemaligen Trödelladen statt. Durch das Schaufenster sieht man einen einsamen Billardtisch. Der in Klarsichtfolie eingeschweißte Plan an der Hintertür verweist auf verschiedene Gruppen, die montags bis freitags angeboten werden. Am Wochenende aber ist der Laden dicht. „Es ist nicht grade aufregend hier“, seufzt eine Schülerin. Da wird die reißerische Berichterstattung über die Vorkommnisse mit entsprechender Neugier verfolgt. Die Zeitung mit den großen Buchstaben jedenfalls war gestern unter den Schülern heißbegehrt. E. Heyduck / C. Kutzer