: Fehler im System
Überall lernt man aus Fehlern. Nur in Deutschland nicht. Hier gelten Fehler nicht als innovativ, sondern als unverzeihlich. Bestes Beispiel für die Unfähigkeit, mit Fehlern kreativ umzugehen, ist das gescheiterte Maut-System
VON MATTHIAS URBACH
Fehler sind unverzeihlich. Nichts falsch machen! Das paukten uns unsere Lehrer mit Rotstift ein. Keine dummen Fragen stellen! So lautet das Motto des Gros der Studenten in den Hörsälen. Und deshalb besser gar keine Fragen stellen. Nur nicht vorwagen. Keine Experimente.
Denn Fehler werden bestraft. Keine Runde in Politik oder Wirtschaft, wo nicht mindestens ein Zeitgenosse sitzt, der es versteht, sich auf Kosten derjenigen zu profilieren, die sich vorwagen, auch etwas Falsches zu sagen. Der Rest applaudiert.
Auch Verkehrsminister Manfred Stolpe kann sich jetzt nur aus der Misere retten, indem er selbst mit Rotstift die Kündigung von Toll Collect zeichnet. Sich zum Lehrer aufschwingt. Ihr habt gefehlt. Weg mit euch! Die deutsche Unfähigkeit, kreativ mit Fehlern umzugehen, lässt sich vortrefflich am Beispiel der Laster-Maut beobachten. Obwohl es sich um technisches Neuland handelt, waren Fehler von Anfang an nicht vorgesehen. „Wir schaffen das“, so die kühne Botschaft der hemdsärmeligen Manager von DaimlerChrysler und Deutscher Telekom. Und blitzschnell zudem. Denn die Bundesregierung konnte gar nicht schnell genug Mauteinnahmen in ihren Haushalt einplanen – obwohl es dafür keine Grundlage gibt – nur die willfährigen Prognosen der Industrie.
Fehler sind nicht vorgesehen. Selbst beim Erziehen unserer Kinder müssen wir vor allem „konsequent sein“, lehren uns die Ratgeber. Wenn der FC Bayern München verliert, dann diagnostiziert Franz Beckenbauer selten gute Gegner. Eher „unnötige individuelle Fehler“. Und wenn ein Minister fehlt, dann gibt es nur eins: Rücktritt. Doch der Fehler ist nicht der Feind des Guten. Eine „fehlerfreundliche Kultur“ ist vielmehr Voraussetzung für Innovation, wissen Unternehmensberater. Und damit für das, was der Politik angeblich so am Herzen liegt.
Wer glaubt, dass aus Fehlern nichts Gutes werden kann, der sei auf sich selbst verwiesen. Der Mensch verdankt seine Existenz einem fortgesetzten Fehler: der Mutation unserer Gene. Das ist der Motor der Evolution. Unter der Vielzahl zufälliger Kopierfehler in den Genen kommen schließlich die zum Zuge, die sich besser reproduzieren können als das fehlerfreie Original. So wandelt sich die Mikrobe zum Homo sapiens.
Unsere Entwicklung ist freilich längst von der kulturellen Evolution geprägt. Und auch die ist keinesfalls Ergebnis einer systematischen Anhäufung von Wissen und Kulturtechniken. Vielleicht wären Mathe und Physik heutzutage weniger verhasst, würden Schulbücher die Disziplinen nicht länger als eine unerbittliche Abfolge logischer Schlüsse darstellen, sondern als das, was sie wirklich sind: ein kontinuierlicher Wettbewerb der Ideen, die genauso Irrtümern und Revolutionen ausgesetzt sind wie die materielle Welt. Entscheidend ist nicht, ob man Fehler macht, sondern ob man es versteht, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Jeder, der im erwachsenen Alter eine neue Sprache erlernt, merkt schnell: Nichts hemmt mehr als das Bemühen, ausschließlich korrekte Sätze zu sagen. Wer es wagt, sich zu versprechen, sich auch zu blamieren, lernt viel rascher. Improvisation, ein ständiges „trial and error“ – für jedes Kind ist das selbstverständlich. Den Erwachsenen wurde es abtrainiert.
Auch die Lkw-Maut leidet, wenn man so will, unter einem Verständigungsproblem: Zwei Dutzend Firmen, darunter Siemens, SAP, HP und Vodafone, liefern Toll Collect Hard- und Software zu. Eine metergenaue Satellitenortung, automatische Gebührenabbuchung per Bordcomputer, Tankstellenautomat oder Internet, kilometergenau, zeitgenau – natürlich ist das schwierig. Die meisten einzelnen Systeme funktionieren. Beim Zusammenschalten geht nichts mehr.
Eine „systemische Innovation“ wie die Lkw-Maut ist viel schwerer zu realisieren „als etwa ein neues Medikament“, urteilt auch Knut Blind vom Fraunhofer Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI). „Selbst wenn sie zwei exzellente Partner haben, muss das nicht heißen, dass sie da was Gutes hinkriegen.“ Allein die Unternehmenskulturen der Konsortialpartner DaimlerChrysler und Telekom zusammenzuführen, könne mitunter schwierig sein. Selbst bei einfacheren neuen Produkteinführungen sind Verzögerungen die Regel.
Auch die innovativsten Unternehmen in Amerika bringen nur „gut 80 Prozent“ ihrer neuen Produkte „zum festgesetzten Zeitpunkt in der geplanten Qualität“ zustande, lautet die Erfahrung des kanadischen Innovationsexperten Robert Cooper. „Der Schnitt schafft es bei 55 Prozent.“ Fehlschläge mit einzuplanen gehöre daher zu einem Innovationsprozess dazu. Es braucht zudem „Entscheidungspunkte“ während des Prozesses, an denen das Projekt zur Not noch gekippt werden kann.
Mit deutscher Gründlichkeit steuerten Industrie und Regierung dagegen die Maut ins Desaster. Toll Collect versprach auf Drängen der Politik, das Mautsystem in nur elf Monaten zu errichten. Absurd, bedenkt man, dass sich Toll Collect nun noch einmal zwei Jahre Fristverlängerung erbeten hatte. Um den Sachzwang perfekt zu machen, kündigte Stolpe auch noch die Eurovignette – ohne dies an einen Mauterfolg zu knüpfen.
Als im Juli die ersten Massentests scheiterten, war wohl das Ausmaß der Probleme absehbar. Manager und Minister aber bemühten sich, es kleinzureden. Hofften auf ein Wunder. Einen Fehler einzugestehen war nicht mehr möglich. Zudem machten es die finanziellen Folgen fast unmöglich, das Mautproblem konstruktiv zu diskutieren.
Natürlich bleibt so eine Panne nicht auf DaimlerChrysler und Telekom beschränkt. Es ist gleich ganz Deutschland, das „vor die Wand“ fährt. Es ist das Ansehen von „Made in Germany“, das leidet. Und keinem kommt in den Sinn zu fragen, ob das Versagen nur deshalb so groß ist, weil alle es so großreden.
Auch wer kein Freund des blinden amerikanischen Fortschrittsoptimismus ist, wünscht sich gelegentlich etwas mehr Zuversicht. In den Vereinigten Staaten kann das zweite von fünf Space-Shuttles abstürzen und eine Kommission der Nasa blanke Unfähigkeit bescheinigen, Astronauten sicher in den Weltraum zu befördern. Das hindert den Präsidenten nicht daran, kurz darauf das Reiseziel Mars auszugeben. Wer in den USA einmal eine Start-up-Firma in den Ruin getrieben hat, bekommt leichter ein neuen Kredit als beim ersten Mal. Schließlich hat er Erfahrungen gesammelt. In einer deutschen Bank bekäme er nicht einmal einen Kaffee angeboten.
Während man in den USA die Pioniere feiert, preist man hierzulande die Nachzügler, die Bewährtes routiniert umsetzen. Im Fall Toll Collect sind es die Systeme der Konkurrenten aus der Schweiz und Italien, die technisch anspruchslos sind und überhaupt nicht ausbaufähig – dafür aber halbwegs solide die Maut kassieren.
„Unternehmen, die berichten, dass etwas schief geht, zeichnen sich durch höhere Innovation aus“, so die Erfahrung vom ISI-Innovationsforscher Knut Blind. „Je größer die Herausforderung ist, die man annimmt, desto wahrscheinlicher wird es, dass man im ersten Anlauf scheitert.“ Dass Toll Collect in einer neuen Ausschreibung noch einmal den Zuschlag bekäme, ist absolut undenkbar.