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Archiv-Artikel

Löscht alle Weltrekorde!

Im Angesicht des jüngsten Doping-Skandals fordert der texanische Soziologe und Anti-Doping-Kämpfer John Hoberman eine neue Rekordliste. Warum, fragt er, hält die IAAF an Marita Koch fest?

VON JOHN HOBERMAN

Der Doping-Skandal um das Designer-Steroid THG, der auch vor der Spitzenklasse der amerikanischen Olympiateilnehmer und Profiathleten nicht Halt machte, bietet Sportfunktionären und Politikern nun eine gute Gelegenheit: Nämlich eine langwierige Farce zu beenden, durch die die Einnahme von Drogen im Sport sowohl toleriert als auch gefördert wurde. Die Verantwortlichen müssen allerdings einen beträchtlichen Einsatz erbringen, um dem Ziel des ungedopten Sportlers wirklich näher zu kommen. Sie müssen dem nationalen und kommerziellen Druck trotzen, der die Doping-Kontrollen von Beginn an untergraben hat.

Zuallererst sollte man erkennen, dass der olympische Sport schon immer ein gigantisches biologisches Experiment war, in dem man längst an physische und psychologische Grenzen des menschlichen Organismus gestoßen ist. Die Doping-Seuche, die sich in den letzten 30 Jahren im Hochleistungssport ausgebreitet hat, beweist, dass diese Grenzen bereits vor vielen Jahren erreicht wurden – und dass sie nur durch pharmazeutische Manipulationen des menschliches Körpers ausgedehnt werden können.

Sportfunktionäre haben mittlerweile die Verpflichtung, jede hervorragende sportliche Leistung – die man früher bedenkenlos feiere – als medizinisches Phänomen abzuklopfen. Jede nationale und internationale Sportorganisation, die einen von Doping betroffenen Sport betreut, sollte in ihrer medizinische Kommission ein „Komitee für anomale Leistungen“ einrichten. Dieses Komitee sollte alle neuen Rekorde und unwahrscheinlichen Leistungen kontrollieren.

So hätte man den US-amerikanischen Kugelstoßer Kevin Toth bereits untersuchen müssen, bevor er der Einnahme des Designer-Steroids THG überführt wurde – nämlich als er Mitte 2003 bei den Kansas Relays die Kugel auf 22,67 Meter stieß. Das war weltweit der weiteste Stoß seit 1990 – einem Zeitpunkt, ab dem in der Folge des Skandals um den Sprinter Ben Johnson und strengerer Doping-Tests der Einsatz von Steroiden bei Wurfathleten rückläufig wurde.

Kugelstoßen war jahrzehntelang eine von Steroiden durchtränkte Veranstaltung. Alle drei Medaillengewinner der Olympischen Spiele 1992 waren nachweisliche Doper – doch nationale und olympische Offizielle machten die Augen zu. Den Weltrekord im Kugelstoßen hält immer noch ein überführter Doping-Sünder. Bis jetzt haben Funktionäre noch kein echtes Interesse gezeigt, die Rechtmäßigkeit solcher im wahrsten Sinn unmenschlichen Leistungen anzuzweifeln.

Die derzeit gültigen Weltrekorde der Leichtathletik sollten zu historischen Kunsterzeugnissen erklärt werden, eine neue Rekordliste sollte sobald wie möglich eingeführt werden. Alle Weltbestleistungen in den Laufdisziplinen der Frauen – vom 100-Meter-Sprint bis zum 3.000-Meter-Lauf – sind in den Augen von Experten verdächtig.

Warum hält beispielsweise der Internationale Leichtathletikverband (IAAF) immer noch am 400-Meter-Weltrekord der ostdeutschen Athletin Marita Koch fest? Koch erzielte 1985 eine Zeit von 47,60 Sekunden, ihre Steroid-Einnahme im Zeitraum von 1982 bis 1984 ist dokumentiert. An ihre Bestzeit ist in fast 20 Jahren keine Läuferin auch nur annähernd herangekommen.

Die wichtigste Reform müsste eine öffentliche Erklärung von Politikern und Sportfunktionären sein, die deutlich macht, dass für junge Menschen ein dopingfreier Sport wichtiger ist als die Ausschlachtung des Sports für politische und kommerzielle Zwecke. Funktionäre und Sportbürokraten haben sich regelmäßig vor einer angemessenen Selbstkontrolle gedrückt und stattdessen allein die ertappten Sportler beschuldigt. Doch die Athleten sind nicht für das Doping-System verantwortlich – sie arbeiten lediglich für diejenigen, die es in Gang halten.

Ein aktuelles Beispiel belegt diese heuchlerische Situation: Der Vorsitzende des Amerikanischen Leichtathletik-Verband (USATF), Craig Masback, spuckte Gift und Galle angesichts des THG-Debakels und verdonnerte die Übeltäter zu lebenslanger Sperre sowie einer Geldstrafe von 100.000 Dollar. Ein starkes Stück – der Sportfunktionär Masback ist berüchtigt für seine Bemühungen, die Identität amerikanischer Doping-Sünder zu verbergen.

Die Wurzel der Doping-Epidemie ist letztendlich nichts anderes als Sport-Nationalismus und dessen konfuses Resultat: die Idee einer nationalen Vitalität. Sport-Nationalisten erliegen der verführerischen Illusion, dass die Hervorbringung wettkampfstarker Athleten auf gewisse Weise die nationale Sicherheit erhöhe. Kein Regime ist dieser unsinnigen Auffassung stärker verfallen gewesen als die politischen Kriminellen, die die DDR und ihre protzige (und mit Hormonen getankte) Sportmaschine lenkten. Das Ergebnis kennen wir: Diese Dummköpfe zerstörten einen Staat, den die olympische Medaillen eigentlich festigen sollten.

Wir brauchen sofort eine Anti-Doping-Vereinbarung, die solche nationalistischen Verdachtsmomente verhindert. Doch es gibt einen noch wichtigeren Grund für rasches Handeln: Solange es keinen entschlossenen Widerstand gegen jede Art des künstlichen Sportlers gibt, besteht die Gefahr, dass genetische Manipulation von Läufern, Springern und Werfern die Athleten in Monster verwandelt. Und das wäre das Ende des Sports, wie wir ihn gekannt haben.

Übersetzung: Jutta Heess

JOHN HOBERMAN (58) ist Sportsoziologe an der Universität von Texas und Verfasser des Anti-Doping-Standardwerks „Sterbliche Maschinen. Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports“