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Archiv-Artikel

Trommeln auf heißem Asphalt

Im sommerlichen Argentinien halten so genannte Murgas Buenos Aires in Atem. 100 dieser Tanz- und Musikgruppen ringen um die Publikumsgunst. Im Gegensatz zum Karneval von Rio sind perfekte Körper und graziöse Bewegungen nebensächlich

VON ANTJE KRÜGER

Es ist drückend heiß. Der Asphalt, scheint’s, spuckt Feuer aus. Ohrenbetäubend tönt Cumbiamusik aus Lautsprechern. Menschen wimmeln, die Hitze klebt auf der Haut. Kinder liefern sich wilde „Schneeschlachten“. Das kalte, weiße Nass, unfreiwilliger Begleiter Kölner Jecken auf der Nordhalbkugel, kommt hier aus der Spraydose. Laut kreischend suchen zwei Mädchen, deren Haare unter dem Schaum nicht mehr zu erkennen sind, sich an ihren Widersachern zu rächen.

Die Luft strotzt vor Erwartung, Ausgelassenheit und dem schweren Duft von Chorizos, Paprikawürsten. Nur noch wenige Minuten, und der erste Karnevalskorso in diesem Jahr eröffnet die Saison. Nervös zupfen sich die Tänzer ihre bunten Seidenfracks zurecht. Vereinzelte unrhythmische Trommelschläge verraten die Spannung der Musiker. Fünf verschiedene Murgas, die argentinische Variante der Karnevalsgruppen, treten heute singend und tanzend gegeneinander an. Über 400 Murgueros versuchen, ihre Gruppen nicht aus den Augen zu verlieren. Wer wird die Gunst des Publikums ergattern?

Auf einmal ein Pfiff mit der Trillerpfeife. Die ersten Tam-tam der Trommeln und Bombos, großer andinischer Pauken, übertönen den Menschenlärm. Das Plärren der Lautsprecher verstummt abrupt. Ein gewaltiger Schub drängt Richtung Bühne. Plötzlich steht keiner mehr still. Über den Köpfen der Masse schaukelt unstet und gefährlich der Rey Momo, das riesige Karnevalsmaskottchen, hin und her. Mühsam bahnt sich sein Träger den Weg durch die Menge. Er macht die Straße frei für die Tänzer. Noch ein Pfiff und der Bann ist gebrochen. Alle springen los. Hundert rotweiße Seidenfracks wirbeln herum, Arme und Beine fliegen durch die Luft. Für die erste Murga, Los Mocosos de Liniers, hat der Auftritt begonnen.

Murgas haben eine lange Tradition in Buenos Aires. Aber erst vor zehn Jahren wurden sie wiederentdeckt und hoffähig gemacht. Fast hätte das Karnevalsverbot der letzten Diktatur ihren bunten, rhythmischen Protest, ihren grotesken Tanz und ihre politische und gesellschaftliche Satire für immer verstummen lassen.

Geboren in den Elendsvierteln und zusammengewürfelt aus der Musik ehemaliger Sklaven und der Ironie armer europäischer Einwanderer, war die Murga lange suspekt und verpönt. „Ich kenne noch einen Freund“, lacht Tintin, mit 76 Jahren einer der ältesten Murgueros der Stadt, „der damals in den 60er-Jahren ganz verliebt war in ein Mädchen. Aber nachdem die ihn im Seidenfrack der Murgueros gesehen hat, sprach sie nie wieder mit ihm.“

Seidenfrack, Handschuhe und Hüte, Erkennungsmerkmal jedes Murgueros, stammen noch von den schwarzen Haussklaven ab, die sich mit pittoresken Bewegungen und bissigen Gesängen über ihre Herren lustig machten.

Inzwischen brennt die Luft auf der gesperrten Straße. Die Beine zucken im dröhnenden Rhythmus des Bombos. Das helle, schnellere Rasseln der Becken bringt das Blut zum Kochen. Der Rhythmus der Murga ist unerbittlich. Niemand entkommt seinem Funkenflug. Leicht vorgebeugt und die Arme ruckartig von sich werfend animieren die Tänzer das Publikum. Glänzender Schweiß liegt auf ihren Gesichtern. Los Mocosos de Liniers haben den ersten Teil, die Entrada, hinter sich. Paco, der das Emblem der Murga schwenkt, stützt sich für Sekunden auf seinen Nebenmann. „Wir haben die Leute gefesselt“, jubelt er, nach Atem ringend, gegen die Trommeln an.

Es ist Ritus, dass sich eine Murga zunächst vorstellt. Mit Wechselgesängen über sich selbst heizen sie die Stimmung an. Erst wenn keiner mehr still steht, beginnt der Hauptteil, ein langes Lied. Ein Lied, das alles rauslässt, was den Sänger bewegt, das Alltag und Politik parodiert und oft an Galgenhumor grenzt.

Wenn der Sommer im Dezember Einzug in Buenos Aires hält, erbeben die Plätze der Stadt im unverwechselbaren Rhythmus der Murga. Schon von weitem dröhnen die Bombos durch die Straßen, ruft die Trillerpfeife zum Springen auf. In kurzen Hosen, die T-Shirts gegen die Hitze hochgezogen, wird nach Sonnenuntergang geprobt.

Die Murgas sind der Stolz eines jeden Stadtteils. Über 100 Murgas gibt es heute in Buenos Aires. Seit 1997 fördert die Stadt sie sogar als kulturelles Erbe. Die Farben der Seidenfracks sind das Siegel jeder Murga. Und der Name die Hommage an den jeweiligen Stadtbezirk. Da gibt es die Erben von Palermo, die Könige von Saavedra, die Verrückten aus Almagro und die Popelkinder aus Liniers. Hunderte von Hinchas, Fans, begleiten ihre Murga immer zu den Auftritten. Die Murgas holen die Kinder von der Straße. Sie bieten Zusammenhalt und leben von Solidarität. Jeder macht, was er am besten kann, trommeln, tanzen, die Kostüme nähen, singen, dichten. Nur Geld lässt sich mit Murgas nicht verdienen. Vielleicht haben sie gerade deshalb so einen Zulauf. „In einer Gesellschaft, die dich täglich aufs Härteste angreift, ist die Murga ein Ort, an dem du dich zugehörig fühlst. Sie ist wie eine große Familie“, sagt Coco von den Amantes de La Boca.

Das Gebrodel im Murgakorso ist kurz vorm Explodieren. Dicht liegt der Rauch vom Holzkohlengrill über den Tanzenden. Noch immer strömen Leute aus den umliegenden Häusern zum Fest. Das Tam-tam der Bombos wird lauter, schneller, heftiger, der Tanz ekstatisch. Schrill feuert die Trillerpfeife an. Die Seidenfracks kleben auf der Haut. Arme und Beine der Tänzer verrenken sich in wilden Sprüngen in der Luft. Die langen Haare der Frauen fallen über ihre Gesichter, fliegen im Wind.

Noch bis in die 70er-Jahre hinein waren Tänzerinnen verboten. Springen durften sie schon gar nicht. Denn die Murga ist keine Schau von perfekten Leibern und reizenden Bewegungen. Sie ist kein zweites Brasilien. Die Arme zum Himmel geworfen, die Beine mit Kraft in die Erde gestoßen, zucken die Körper der Tänzer in der Luft, als wollten die Murgueros alles aus sich herausschütteln. Gerade diese Absage ans Äußere macht die Schönheit der Murga aus.

Höhnisch kreischt und lacht das Publikum. Der Sänger auf der Bühne hat sein Spottlied angestimmt. Die Tänzer antworten im Refrain. Korrupte Politiker, an Brust und Nase operierte Damen, die Ticks der Neureichen, die Bitternis der Verarmten – nichts entkommt den bissigen Gesängen. Mit ihren Texten ecken die Murgas an. Immer wieder wurden sie verboten und an den Rand gedrängt. Doch heute sind sie stärker den je. Argentiniens allumfassende Krise hat sie zum Selbstläufer gemacht. Schon längst sind sie kein pures Karnevalsspektakel mehr. Murgas marschieren auf Demos mit und treten vor Kindern in den Armutsvierteln auf. Ihr Geheimnis – die Murga, so heißt es unter Murgueros, hilft dir, glücklich zu sein.

Der letzte Bomboklang ist verhallt. Nur langsam verstreuen sich die Leute, stehen noch in ein wenig in Grüppchen zusammen. Der Boden ist übersät mit Bechern und Flaschen. Die Murgueros sind erschöpft, aber glücklich. Heute wurde keine Murga zum Sieger gekürt. Erst der Abschlusskorso wird über die Besten entscheiden. Alle umarmen sich, und auch nach mehr als einer Stunde Tanz für jede Murga lachen sie noch.