piwik no script img

Archiv-Artikel

„Es muss im Gedächtnis bleiben, wer verantwortlich war“, sagt Vicenç Navarro

Erst jetzt werden in Spanien die verschwundenen Opfer von Bürgerkrieg und Francos Diktatur würdig bestattet

taz: In den letzten Jahren werden in Spanien immer wieder Massengräber aus dem Bürgerkrieg geöffnet. Was bedeutet dies für die spanische Gesellschaft?

Navarro: In den Jahren des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie wurde hier, anders als in Deutschland, die Geschichte nicht aufgearbeitet. Die großen Parteien einigten sich auf einen Schweigepakt. Die Vergangenheit – Bürgerkrieg und Franco-Diktatur – wurden einfach ausgeklammert. Die Suche nach den Verschwundenen bricht diesen Schweigepakt.

Das Thema Massengräber ist jetzt aktueller denn je. Zwei Familien wollen ein Massengrab in der Nähe der südspanischen Stadt Granada öffnen, in dem auch der spanische Poet Federico García Lorca liegt. Die Lorca-Familie spricht sich dagegen aus. Für sie verletzt diese Aktion einen „heiligen Ort“.

Lorca ist nicht das Thema. In Spanien verschwanden im Bürgerkrieg und den Jahren danach über 30.000 Menschen. Darum geht es. Jetzt, über 25 Jahre nach Ende der Diktatur, wurde endlich das Schweigen gebrochen. Dafür sind zum Großteil junge Menschen verantwortlich, die Bürgerkrieg und Diktatur nicht erlebt haben. Sie ergriffen die Initiative dank einer internationalen Debatte über die Verschwundenen in Ländern wie Chile und Argentinien. Nach dem Fall Pinochets begannen sich hier immer mehr Leute zu fragen: Und was ist mit unseren Verschwundenen?

Ja, aber Sie müssen sich doch der Debatte mit der Familie Lorca stellen?

Lorca ist sicherlich der bekannteste Fall eines Verschwundenen, aber für mich ist er nicht repräsentativ. Zwar wurde auch er einfach liquidiert und verscharrt, aber er ist gesellschaftlich anerkannt. Es gab immer wieder Gedenkveranstaltungen für ihn. Er ist eine historische, international anerkannte Persönlichkeit. Dies gilt für die restlichen Verschwundenen nicht.

Die Meinung der Angehörigen von unbekannten Verschwundenen zählt also mehr als die der Lorca-Familie?

Viele Familien haben den Wusch zu wissen, wo ihre Angehörigen sind, und sie wollen ihrer würdig gedenken. Es handelt sich dabei um ein menschliches und politisches Bedürfnis. Das ist auch der Beweggrund derer, die das Lorca-Grab öffnen wollen. Die Rechte in diesem Land gedenkt ihrer „Märtyrer“, die in dem „Kreuzzug“ fielen, wie sie es nennen. Die Linke muss ihr eigenes historisches Gedächtnis wiedererlangen.

In den Jahren zwischen 1982 und 1996 regierten in Spanien die Sozialisten. Warum wurde damals nicht nach den Verschwundenen gesucht?

Weil die Sozialisten den Schweigepakt akzeptierten und so verzichteten, das historische Gedächtnis der Spanier aufzufrischen. Das war ein großer Fehler.

Wie erklären Sie sich, dass heute Manuel Chaves, Präsident der Sozialistischen Partei und Landeschef von Andalusien, die Angehörigen unterstützt?

All das hat mit dem Pinochet-Verfahren zu tun. Als der ehemalige chilenische Diktator auf Anordnung eines spanischen Richters in London einsaß, fassten hier viele den Mut, nach ihren eigenen Verschwundenen zu fragen. Das Umdenken in der Sozialistischen Partei war die Folge. Aber auch das geht sehr langsam voran. So wurde etwa in Andalusien bis heute ein Dokumentarfilm über die Verschwundenen nicht ausgestrahlt.

Kann der Blick zurück in die Vergangenheit, den Sie einfordern, nicht die Aussöhnung gefährden und alte Wunden wieder aufreißen?

Eine Aussöhnung kann es nur geben, wenn sich die Täter zu ihrer Schuld bekennen und dafür um Vergebung bitten. Die Interessengruppen, deren Privilegien in der Republik eingeschränkt wurden und die deshalb den Putsch Francos und die Diktatur unterstützten, haben sich nie zu ihrer Schuld bekannt. Die heutige Rechte ist Erbe der damaligen Rechten. Die Partido Popular (PP) von José María Aznar hat niemals offen den Franquismus verurteilt oder hat sich davon distanziert.

Vor wenigen Monaten blieb die PP sogar einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Diktatur im Parlament fern.

Das ist doch unglaublich. Und in in Deutschland undenkbar. Wer sich nicht von den Nazis distanziert, ist politisch tot. Ich bin sofort für die Aussöhnung, wenn Aznar, die Monarchie, die Kirche, die Armee etc. ihre Schuld für den Franquismus bekennen und sich entschuldigen. Solange das nicht geschieht, kann von Aussöhnung keine Rede sein. Zu viele hoffen noch, dass das Geschehene in Vergessenheit gerät. Das wollen wir verhindern. Es muss im kollektiven Gedächtnis bleiben, was geschah und wer dafür verantwortlich war.

INTERVIEW: REINER WANDLER