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Archiv-Artikel

Belfast Child

Makellose Erinnerung: Eoin McNamee erzählt eine traurige Geschichte. Sie handelt vom Mord an der 19-jährigen Tochter eines Richters undvon einer überaus bigotten Gesellschaft. Sein nordirischer Roman „Blue Tango“ beruht auf einem authentischen Fall aus den Fünfzigerjahren

Die Tochter nimmt sich vom Leben, was sie kriegen kann, und wird dafür gehasst

von ANDREAS MERKEL

„Der Ort ist die reinste Brutstätte, verdammt noch mal“, bricht es einmal aus dem Ermittler von Scotland Yard heraus, nachdem ihm ein Einheimischer „eine Liste sexueller Sünden in der Provinz“ aufgezählt hat: „Ehebrecher. Wüstlinge. Homosexuelle.“ Es geht um Belfast. In einem Vorort der nordirischen Stadt hat sich der Mord an Patricia Curran ereignet, der als authentischer Fall Eoin McNamees Roman „Blue Tango“ zugrunde liegt.

Die 19-jährige Tochter eines einflussreichen Richters wird in der Nacht zum 13. November 1952 auf der Einfahrt des Familienanwesens tot aufgefunden. Die Obduktion ergibt, dass mit einem Messer 37-mal auf sie eingestochen wurde. Der nun im Roman noch einmal detailliert aufgerollte Fall hat alles, was man aus unzähligen Fernsehserien, Filmen und Büchern des Kriminalgenres kennt – und sich dennoch immer wieder gerne erzählen lässt, wenn dies so gekonnt geschieht, wie bei dem 1961 in Nordirland geborenen McNamee.

Da gibt es eine angesehene Familie mit genau der richtigen gesellschaftlichen Fallhöhe, die zurückgezogen in einer düsteren Villa am Rande der Stadt lebt. Das unduldsame Familienoberhaupt ist nicht nur ein strenger Richter mit politischen Ambitionen, sondern auch hochverschuldet und spielsüchtig. Sein Sohn ist ein strebsamer Jurist und religiöser Eiferer. Und die Mutter bemüht sich, das gesellschaftliche Ansehen zu wahren. Mit der Erziehung der Tochter ist sie überfordert. Denn diese Tochter schließlich, hübsch und trotzig, nimmt sich vom Leben, was sie kriegen kann, und wird dafür nicht nur von der eigenen Familie, sondern auch von der halben Stadt gehasst (während sie zur anderen Hälfte sexuelle Kontakte zu unterhalten scheint).

Als Patricia Curran unter ebenso brutalen wie mysteriösen Umständen ermordet wird, ist jedenfalls klar, dass viele vieles zu vertuschen haben. Aus den Ermittlungen zum Fall wird ein veritabler Justizskandal, an dessen Ende ein homosexueller junger Soldat schließlich den Schuldigen abzugeben hat.

Mit einem ausgeprägten Hang zur kontemplativen, gelegentlich etwas gesuchten Metapher („… ihr Atem hing in der Luft wie die Spur eisiger Tugend, der sie abgeschworen hatte“!) gelingt es Eoin McNamee, das gesellschaftliche Klima dieser Zeit stimmungsvoll düster auszumalen. In dreißig kurz gehaltenen Kapiteln und unter beständigem Wechsel der personalen Erzählperspektive zeigt sein im Übrigen hervorragend übersetzter Roman die zahlreichen Aspekte des Falls wie Fragmente eines kunstvollen Mosaiks, das sich der Leser nach und nach selbst zusammenbauen kann.

„Er musste daran denken“, heißt es an einer Stelle über einen Mitarbeiter des Richters, „dass Esther alle Verpackungen aufbewahrte, wenn sie etwas kaufte. Sie faltete das Zellophan sorgfältig zusammen, brachte die Verpackung wieder in die ursprüngliche Form des Gegenstandes, ersetzte fehlende Klammern und trug die Schachtel vorsichtig auf den Dachboden, als könne sie mit einer solchen Aktion die makellose Erinnerung des Gegenstandes erhalten und ihm Garantie vor dem Verderben geben.“ Genau so lässt sich die Erzählstrategie Eoin McNamees beschreiben. Er weiß, dass es keine Garantie vor dem Verderben und der Vergänglichkeit gibt.

Mit großer Empathie hat man so am Ende nicht nur die traurige Geschichte von Patricia, sondern die eines ganzen Landes verfolgt, „fasziniert von den verstreuten Anwesen, der kompakten Industriezone, der Melancholie, die dem Ganzen innewohnte“. Es geht um mehr als nur um Belfast: „Das ist jeder Ort, Sergeant“, antwortet der Einheimische dem Scotland-Yord-Ermittler auf dessen Tiraden gegen die bigotte Stadt schließlich. „Glauben Sie mir. Jeder Ort.“

Eoin McNamee: „Blue Tango“. Aus dem Englischen von Hansjörg Schertenleib. C. H. Beck, München 2003, 304 Seiten, 19,90 €