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Archiv-Artikel

Die Spirale der Gemütlichkeit

Am 1. Mai 2003 wurden in Oberbayern wieder verfassungskonforme Symbole gezeigt

Sie trinken Bier. Sie genießen das schöne Wetter. Und die Polizei muss tatenlos zusehen

EICHENAU taz ■ Es ist eine selige Tradition, aber es hängen ihr hier viele Menschen an, auch und gerade die Jugend in Bayern. Jedes Jahr wieder mahnen die bayerischen Behörden zur Umsicht – ohne Wirkung. Wie vorprogrammiert spielt sich, immer wieder am 1. Mai, dasselbe Schauspiel ab: Menschen jeden Alters sitzen auf Bierbänken auf der Wiese vor dem Eichenauer Rathaus. Sie feiern das traditionelle Aufstellen des Maibaums. Sie trinken Bier. Sie unterhalten sich. Sie genießen das schöne Wetter. Blasmusik spielt. Und die Polizei muss tatenlos zusehen.

Um die Bevölkerung in Stimmung zu bringen und der Jugend einige Anregung für nächtliche Aktivitäten zu geben, hatte das Bayerische Justizministerium schon am 30. April gehandelt und eine Pressemitteilung herausgegeben. Justizminister Dr. Manfred Weiß (CSU) höchstpersönlich gab die Linie für die „Freinacht“, jenes andernorts auch „Walpurgisnacht“ genannte Dunkel vor dem 1. Mai vor: „Das Herausnehmen von Kanaldeckeln ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, das Sprengen von Briefkästen glatte Sachbeschädigung, das Verprügeln von Hausbesitzern Körperverletzung.“ Trotz dieser eindringlichen Worte eskalierte die Aktion in Eichenau in den folgenden Stunden bis hin zur völligen Ereignislosigkeit. Die Polizei kam nicht zum Einsatz.

Dabei hatte es im Vorfeld des diesjährigen 1. Mai so ausgesehen, als könne die Spirale der Gemütlichkeit endlich durchbrochen werden. Am Olchinger See, wenige Kilometer entfernt, waren in lauen Abendstunden abgelegte Fahrräder aufgefunden worden, wie Hauptkommissar Helmut Schäfer, stellvertretender Leiter der zuständigen Polizeiinspektion Olching, der Öffentlichkeit mitteilte. Schäfer weiter: „Da wird am Olchinger See gefeiert, Alkohol getrunken, dann kommen einige auf dumme Gedanken.“ Doch wie schon befürchtet, geschah überhaupt nichts. Die Polizei entschied sich schließlich zu einer Strategie der massiven Abwesenheit.

Hoffnung keimte derweil an anderer Stelle im Verborgenen auf: Ein Personenbündnis um den Feuerwehrmann Thorsten Wolf hatte sich zusammengefunden, um einen neuen Maibaum im Wald zu schlagen, zu schmücken, gegen Entführungsversuche von Burschen aus dem Nachbarort zu schützen und später auf der Wiese vor dem Rathaus aufzurichten. Die Gruppe von jungen Männern, die sich auffälligerweise sämtlich aus Gebetstreffen in der katholischen Kirche von Eichenau kannten und dort von den örtlichen Glaubensführern womöglich in die Arme der Bürgerlichkeit getrieben worden sind, bereiteten im Stillen ein Flugblatt vor, das am 1. Mai in Eichenau verteilt werden sollte. Sein grausiger Inhalt: „Den Alten zur Ehr! Den Jungen zur Lehr! … Nicht vergessen werden soll die jahrzehntelange Arbeit des Pfefferminzvereins zum Erhalt dieser Tradition.“

Wochenlang operierte die Maibaum-Gruppe um Wolf verdeckt im Untergrund. Sie versteckte das traditionelle Langholz, um am 1. Mai zuschlagen zu können. Beinahe wäre ihr riskantes Unternehmen gescheitert. Der mit Tafeln der in Eichenau vertretenen Zünfte geschmückte und weiß-blau bemalte Baum war nach seiner Fertigstellung zu breit geworden, um ihn durch die Tür seines Versteckes zu schaffen. Da griff Wolf zu einem Vorschlaghammer und schlug ein Loch in die Außenwand. Das Öffnung klafft noch heute, eindeutig ein Zeugnis brutaler Gewalt. Sollte es das einzige bleiben? Würden die Menschen, die sich hier zum Erhalt der Verhältnisse unter roten SPD-Sonnenschirmen versammelt haben, wirklich Ruhe bewahren? Würde es, angepeitscht durch die gnadenlosen Rhythmen einer Blaskapelle, zu Zusammenstößen mit den Verkäufern vom Basar der Eichenauer Sektion des Naturschutzbundes kommen? Würde die Geschirrausgabe durchhalten?

Gegen Mittag wurden im Feuerwehrblock einige verfassungskonforme Symbole gesichtet. In lauten Gesängen skandierten die angetrunkenen Männer für Außenstehende beängstigend unverständliche Lobgesänge auf das Konzept des Bayerischen und die unbedingte Vermeidung jeglicher Revolution.

Spätestens um 17 Uhr, so schätzten langjährige Beobachter, würde ein unvermeidbarer Automatismus in Gang geraten: Die Bänke würden zusammengeklappt, die Blasmusik verstummen. Und die Menschen gingen heim. Einfach so, als wäre nichts passiert. STEFAN KUZMANY