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Archiv-Artikel

Später ist man schlauer

Reich oder glücklich: Behavioral Finance und die Kunst, Gefühle und Finanzen zu trennen. Auf der Suche nach absolut sicheren Börsenvorhersagen hat man eine Reihe von Methoden gefunden

Auf die Frage, wie sich die Börsenkurse in der Zukunft entwickeln, antwortete J. P. Morgan: „Sie werden schwanken.“ So jedenfalls eine Anekdote über den bekannten amerikanischen Bankier. Auch wenn häufig etwas anderes behauptet wird, das Einzige, was man sicher über die Börsenkurse sagen kann, ist, dass sie steigen oder fallen werden. Dennoch verdient eine ganze Branche ihr Geld damit, die Entwicklung der Märkte vorherzusagen. Im Laufe der Börsengeschichte ist so eine Vielzahl mehr oder weniger wissenschaftlich fundierter Methoden entstanden.

Die gängigsten dieser Methoden sind die Fundamentalanalyse und die technische oder Chart-Analyse. Die „Fundamentalisten“ versuchen den „inneren“ Wert eines Unternehmens zu bestimmen. Bilanzdaten und die Ertragskraft von Unternehmen werden untersucht, um Gewinnaussichten einschätzen zu können. Daraus wiederum lassen sich Rückschlüsse auf die Entwicklung des Aktienkurses ziehen. Ein Unternehmen kann „unterbewertet“ sein und zum Kauf, oder „überbewertet“ und zum Verkauf empfohlen werden.

Die „charttechnisch“ orientierten Analysten beschäftigen sich dagegen ausschließlich mit den Kursen selbst. Historische Kurs- und Indexverläufe, Börsenumsätze, statistische Zahlen und andere Faktoren werden herangezogen, um daraus Schlüsse für die Entwicklung zu ziehen.

Allerdings haben die wirklichen Kursverläufe in den letzten Jahren beide Schulen zur Verzweiflung gebracht, weil beide annehmen, dass sich Anleger weitgehend rational verhalten. Aber genau an dieser Annahme muss man spätestens seit den gigantischen Kurssprüngen der späten 90er-Jahre und den ebenso jähen Abstürzen zweifeln.

Während fundamentale und technische Analyse präskriptiv arbeiten, also sich damit beschäftigen, was die Marktteilnehmer aufgrund der vorliegenden Informationen tun müssten, und den rationalen und an der Maximierung des eigenen Nutzens orientierten Homo oeconimicus voraussetzen, beschäftigen sich die Experten der Behavioral Finance damit, was die Menschen tatsächlich tun: Sie versuchen, die systematischen Verzerrungen der Wahrnehmungen, denen sie zum Opfer fallen, zu beschreiben.

Ausgangspunkt seien bestimmte experimentell feststellbare Verhaltensgrundmuster, mit denen Menschen immer wieder Risikosituationen begegnen, so Martin Weber, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Mannheim und Experte für Behavioral Finance. Menschen orientieren sich nämlich nicht an dem absoluten End- und Anfangsvermögen, sondern relativieren Verluste und Gewinne. Dabei empfinden sie Verluste deutlich stärker als Gewinne, die „gefühlten“ Verluste sind etwa doppelt so hoch wie die realen und entsprechend umgekehrt die „gefühlten“ Gewinne. Das führt dazu, dass sich Anleger häufig im Gewinnbereich risikoavers verhalten, während ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen, in Verlustzonen steigt.

Zudem können Menschen nur sehr schlecht Wahrscheinlichkeiten einschätzen und neigen dazu, neue Informationen überzubewerten. Davor seien auch professionelle Anleger nicht gefeit. Allerdings sei das herdentriebhafte Verhalten auch der Börsenprofis Ende der 90er-Jahre und ihre aus heutiger Sicht völlige Fehleinschätzung der Lage keineswegs einfach als „irrational“ zu bewerten, so Weber. Denn aus der Sicht des Individuums ist das Risiko eines Alleingangs gegen die Mehrheit deutlich höher, als die Fehler aller einfach mitzumachen. Insofern hätten die Fondsmanager durchaus rational reagiert.

Joachim Goldberg, geschäftsführender Gesellschafter bei Cognitrend, einem Unternehmen, das sich praxisorientierter Forschung und Weiterbildung zum Thema Behavioral Finance widmet, sieht die Ursache dieser Verhaltensweisen darin, dass Menschen versuchen, Dissonanzen zu vermeiden. Die Umgebung, das, was wahrgenommen wird, soll möglichst im Einklang mit der eigenen Wertewelt sein, zum Beispiel dem Wert, erfolgreich zu sein oder einen guten Ruf haben. Geraten nun innen und außen in Dissonanz, gibt es zwei Möglichkeiten, zu reagieren: entweder die eigenen Entscheidungen als falsch wahrzunehmen und zu revidieren oder die Wahrnehmung zu ändern.

Die meisten Menschen entscheiden sich eher für die letztere, bequemere Variante. Dieser psychologische Mechanismus ist dann für typische Fehler verantwortlich, dafür zum Beispiel, dass Anleger ihre Verluste im Schnitt 2- bis 2,5-mal so lange laufen lassen wie ihre Gewinne, weil sie sich ihre Fehlentscheidung nicht eingestehen wollen. Reich und glücklich zugleich sein, meint Goldberg, sei schwierig. Und so plädiert er für reich oder glücklich, es sei am besten, die Frage des Wohlbefindens strikt von der des Geldverdienens zu trennen. Denn dies sei vor allem eine Frage der Disziplin, und die sei bekanntlich dem Wohlbefinden nicht zuträglich.

Welche Ratschläge kann man aus der Sicht des Behavioral Finance privaten Anlegern in der gegenwärtigen Marktlage geben? Martin Weber ist zurückhaltend, denn der Nutzen der Behavioral Finance liege keineswegs darin, künftige Marktentwicklungen vorhersagen zu können. Immer erst im Nachhinein sei man schlauer. Vielmehr gehe es darum, die eigenen Fehler zu eliminieren.

Goldberg rät Anlegern, sofern sie langfristig orientiert sind, bei ihrem langen Horizont zu bleiben und weiter diversifiziert anzulegen. Für kurzfristige, an Tradinggewinnen interessierte Investoren gilt hingegen, sich von ihren „Depotleichen“ zu trennen. Ein Wert, den man heute nicht mehr kaufen würde, gehört nicht ins Depot. Wichtig sei, die jeweils aktuellen Entscheidungen von früheren völlig losgelöst zu treffen: Nur die Gegenwart zählt. BIRGIT BOSOLD

www.cognitrend.de; www.behavioral-finance.de